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Anteloper: »Pink Dolphins«

International Anthem, 2022

Der Auftritt der US-amerikanischen Trompeterin Jaimie Branch, die sich im Übrigen stets in Minuskeln schrieb (also jaimie branch), war eigenwillig, nicht gefällig, sondern fordernd und robust.
An Tattoos hat man sich natürlich auch schon in Jazz-Gefilden gewöhnt, ganz so punkig kommen aber die wenigsten daher. Man sah der 39jährigen an, dass sie es nicht immer »ganz leicht« hatte: Groß geworden ist sie in Brooklyn, harte Bedingungen. Studierte dann am New England Conservatory in Boston. Es zog sie nach Chicago. Dann zurück an die Ostküste, Baltimore. Noch so ein harter Ort. Vorher, nachher, zwischendrin lauerte der Sumpf. Wie viele Große der Zunft verfiel auch sie den Drogen; unter ihnen auch Heroin.

Branch hatte es nie leicht, das kann man hören

Branch hatte es nie leicht, was man auch hören kann, wenn man mag. Schmerz, Empörung, Groll, Wildheit: Das alles übersetzte die Trompeterin Branch, wie kaum jemand anderes, in eine hörbare (Mit-)Erfahrung. So furchtbar gut sie ihr Instrument im Griff hatte, so fürchterlich schrille Laute der Qual entlockt sie dem Blechhorn immer wieder. Ein glasklares, brutales Spiel, das Gänsehaut bereitet.

Umso erstaunlicher war ihre Vorliebe für das Trompetenspiel des Kölners Axel Dörner; bei ihm lieh sie sich die Möglichkeit Be-Bop und Free-Jazz, strikte Komposition und Freiheit, sogar Anarchie, zu verbinden. Da muss man sich auch in seiner Hörerfahrung ein wenig strecken; bei den anderen Vorbildern ist die Nähe offensichtlicher: Der Weltmusiker und Jazzer Don Cherry und natürlich der »Prince of Darkness« Miles Davis. 
Gerade zu Davis, der ja selbst zeitlebens mit den Drogen zu kämpfen hatte, sind die Parallelen markant. Doch seit einiger Zeit war Branch wohl frei von Heroin.

»Ich hatte Angst, dass mit den Drogen auch meine Musik gehen könnte. Erst nach einiger Zeit erkannte ich aber, dass das Gegenteil der Fall war: Das Heroin hinderte mich an der Weiterentwicklung«, stellt sie erst vor wenigen Monaten fest. Und spielte lieber gegen die Dämonen an als ihnen noch einen Platz zu gewähren. Stattdessen war sie seit ihrem Debüt-Album im Jahr 2017 zu einem der gefragtesten Acts des Jazz gereift. Mit dem Nachfolger »Fly or Die II« stürmte sie dann auch die Feuilletons – die sich glücklicherweise immer seltener an ihrem Aussehen und ihrer direkten, bisweilen harten Art stoßen konnten.

Auch bei ihrem neuen Projekt Anteloper ging Branch andere Wege. Zusammen mit dem Drummer Jason Nazary verabschiedete sie sich in gepflegtem Maße vom Jazz, bloß um in später runderneuert und mit neuer Power wieder zurück zu bringen.

Im Namen des Projekts, einem Kofferwort, treffen die Antilope und der Eindringling (englisch: interloper) aufeinander. Branch und Nazary sahen sich zwar dauernd bereit zum Spurt, zur blitzartigen Flucht, hakenschlagend; zugleich aber auch als Eindringlinge, die keiner so richtig dabei haben mochte. Sie strampelten sich auf ihrem Album »Pink Dolphins« folglich ordentlich einen ab, wie man so sagt, und machten aus ihrer Schwäche eine Stärke. Der pinke Amazonas-Delfin gibt dementsprechend auch nicht ganz zufällig das Wappentier der ersten LP des Duos, ist dieser doch dafür bekannt, dass er sowohl im Süßwasser wie auch im Salzwasser des Atlantischen Ozeans sein Zuhause hat und auf Jagd geht. Andererseits ist er damit auch nirgendwo wirklich daheim … um es mal im Sinne des Duos zu deuten.

Dass man, trotz Draußenstehens, kein Anti-Jazz-Projekt startete, hört man an jeder Stelle. Beim Opener »Inia« werden vor allen Dingen Synthesizer-Klänge und -Noises eingesetzt, um dem ganzen Stück einen unruhigen Mantel zu bescheren. In der Mitte spielen Nazary und Branch dennoch, wie ihnen der (Jazz-)Schnabel gewachsen ist. In langgezogenen Phrasen akzentuiert sie hier das Rumpeln des Stücks. Sicher hat das etwas Gewaltiges, man könnte auch eine Punk-Attitüde attestieren. Allzu weit von den Jazz-Erneuerern aus London und Chicago ist das dennoch nicht.

Noch viel näher am Kern der Sache zeigen sich die beiden beim Titelstück wider Willen: »Delfin Rosado«. Hier treten dann noch zwei weitere Gestalten ins Rampenlicht, die bei dieser Platte als Geburtshelfer zugange waren: Jeff Parker und Chad Taylor. Letzterer steuert das afrikanische Lamellophon Mbira zu, das eine feine, immer markanter werdende pentatonische Konter-Melodie spielt.
Parker, selbst kein unbeschriebenes Blatt, wenn es um die Aufweichung von Genregrenzen geht (denken wir nur an seine Arbeit mit den Post-Rockern Tortoise), hingegen kommt gleich mit Gitarre, Bass und dem Synthesizer Korg MS-20 um die Ecke. Zusammen lassen es die vier dann auch Rappeln, der Track wirbelt sich immer höher. Seien wir ehrlich: Das ist verdammt nahe an dem, was wir von Miles Davis zu »Bitches Brew«-Zeiten kennen.

Miles Davis hätte Spaß an diesem Sound

Der alte Haudegen hätte sicher auch seinen Spaß am psychedelischen Cover gehabt: Die Delfine kommen vorsorglich direkt mit je drei Augenpaaren angeschwommen, die Sonne steht tief und orange am Firmament und sonst versinkt alles in einer ozeanischen Selbstentgrenzung.

Auf »Earthlings« hören wir die neue Branch dann zusätzlich als Vokalistin. Wütete sie noch auf ihrem umfeierten Album „Fly Or Die II“, schimpfte wie ein Rohrspatz über Trump und Konsorten, über die Us-amerikanische Einwanderungspolitik der letzten Jahrzehnte und und und, schlägt sie hier fast schon divenhafte Töne an: Nicht ganz Billie Holiday – auch da gäbe es Gemeinsamkeiten im Lebenslauf auszumachen -, aber doch vorzüglich. Bald schnappt sie sich doch wieder ihre Trompete, spielt aber nur eine Nebenrolle: Der vorzüglich angelegte, blecherne, metallische Beat Nazarys hält hier alles zusammen und treibt an, wie es sonst nur eine Maschine macht. Es entwickelt sich ein Schreiten … es geht voran.

»Pink Dolphins« ist ein faszinierendes Werk, eine LP, wie sie nur selten in einem Jahrzehnt vorkommt. Gleichzeitig eine Bestimmung des Fortschritt-Pegels im aktuellen Jazz, dann wiederum eine Außenseiterrolle einnehmend. Von innen nach außen und zurück, ja, im Zick-Zack durch die Zeit und diese Platte: So machten es wohl Anteloper wie Jaimie Branch und Jason Nazary.
Und wäre diese formidable Platte nicht Anlass genug gewesen von ihr und der großen Jaimie Branch zu berichten, muss dieser Text zum Ende leider sagen, dass diese Platte wohl auch das letzte bleibt, was wir von ihr hören werden. Branch ist am 22. August zuhause in Brooklyn mit 39 Jahren gestorben.

Text: Lars Fleischmann