Switch to english version here
ausblenden

Er sei der vielleicht beste Percussionist aller Zeiten, sagte Dizzy Gillespie über ihn. Am 3. Mai 2022 spielte Kahil El’Zabar zwei Konzerte bei uns im King Georg Jazz-Club.

Kahil El’Zabar

Ich habe mich für eine Form der Kunst und des Entertainments entschieden, die nicht populär ist, nicht bei den Massen ankommt«. So reflektiert der 1953 in Chicago, Illinois, geborene Kahil El’Zabar im Film »Be Known – The Mystery of Kahil El’Zabar« sein eigenes Tun. Die gefeierte Dokumentation, die zeitweilig sogar vom Streaming-Riesen Amazon gepusht wurde, zeigt den nachdenklichen Percussionisten während seiner »Black History Month«-Tour im Jahr 2007. Im Mai war er bei uns zu Gast, um zwei Sessions zu spielen, einen der beiden Auftritt kann man mit Jahresabo in unserem Streamarchiv abrufen.

Der Künstler, der als als Clifton Blackburn getauft wurde, hat Recht: Massen erreicht er bis heute nicht. Sein Status hat sich dennoch in den letzten 15 Jahren seit den Filmaufnahmen erheblich geändert. Im Zuge verschiedener Re-Issue- und Wiederentdeckungswellen wurden auch El’Zabar neuerlich Ruhm und Ehre zuteil. Die PoC- und die weiße Jugend in den USA, genauso wie Plattensammler*innen hier feiern den alten neuen Geheimtipp. So ist mittlerweile auch ein ganzer Schwung seiner unzähligen und hinter etlichen Pseudonymen verstreuten Platten erheblich im Preis gestiegen und unerschwinglich geworden. Das nur am Rande.

Noch unter bürgerlichem Namen Clifton ging in den 1950ern und 60ern zu Schule, der Vater war Polizist, seine Mutter verkaufte Brautkleider. Er wuchs in behüteten Verhältnissen auf, kam dennoch früh in Kontakt mit »abgestürzten Seelen«, wie er heute sagt. Das hat ihn nachhaltig geprägt: Bis heute ist Kahil El’Zabar bekennend »tea-total« – frei von jeglichen Drogen oder anderen Verführungen. Er wechselte lieber aufs Lake Forrest College, einem sogenannten »liberal arts college«, statt zu feiern. Hier kam er erstmals in Kontakt mit Musiker*innen, die Teil des gerade gegründeten AACM waren. Der Association for the Advancement of Creative Musicians in Chicago. Clifton trat der Vereinigung 1970, mit 17 Jahren, bei. Er machte sich schnell einen Namen als formidabler Drummer – sein Vater hatte ihn am Schlagzeug gelehrt.

Intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Trommeln des afrikanischen Kontinents

Er formierte erste Gruppen, spielte mit Lester Bowie und Malachi Favors vom Art Ensemble of Chicago. Mit 22 traf er dann Harold Murray, genannt Black Harold beziehungsweise Atu Harold Murray. Den Beinamen hatte er nach fünf Jahren in Ghana angenommen. Murray vertrat die »Traditional African Music and Philosophy«, einen Ansatz, den er während seiner Zeit auf dem afrikanischen Kontinent entwickelt hatte. Auf Basis afrikanischer Rhythmen sollen eine inhärente spirituelle Beziehung zwischen dem amerikanischen Körper und den afrikanischen Seelen der Sklaverei-Nachkommen aufgebaut werden. Atu lehrte Clifton, der fortan Kahil El’Zabar heißen sollte.
Es begann eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Trommeln des afrikanischen Kontinents – klassisches Schlagzeug beherrschte er sowieso. Bis heute ist das Instrumentarium um zigfache Kesseltrommeln, Lamellophone (wie die Mbira) oder auch die brasilianische Cuica angewachsen.
Die Lehren des Teilzeit-Ghanaers fielen sowieso auf fruchtbaren Boden. El’Zabar hatte schon ein Jahr früher das Ethnic Heritage Ensemble ins Leben gerufen. »Transafrikanische Musik« hieß das Projekt, das in Chicago solche Wellen schlug, dass El’Zabar schnell zum Präsidenten der AACM gewählt wurde.

https://youtu.be/R-eNfiEo784

In Folge spielte er als der »vielleicht beste Percussionist aller Zeiten« (Dizzie Gillespie) mit etlichen Granden zusammen. Neben dem Trompeter mit den markanten Ballonwangen gehören Namen wie Stevie Wonder, Cannonball Adderley und Nina Simone dazu. El’Zabar war mit seinem einzigartigen Gefühl für den Einsatz afrikanischer Rhythmen der perfekte Begleiter für größere Ensembles. In der Zwischenzeit pflegte er seine eigenen Projekte. Ein eigenes Trio gehört da genauso dazu wie ein Quartett; das bereits erwähnte Ethnic Heritage Ensemble, das Infinity Orchestra und obendrauf das Ritual Trio – sie muss man alle erwähnen. Und dazu spielte er gleich hundertfach als Sideman.
Derweil ereilte ihn ein ähnliches Schicksal wie das seines guten Freunds und musikalischen Begleiters Pharoah Sanders – mit dem Aufkommen von Free Funk und (Neo-)Straight Ahead in den 1980ern wurden ihre Positionen weniger gefragt. Die eigene Melange aus Spiritual, Free und Avantgarde Jazz kam, wenn überhaupt, noch bei sogenannten World Music-Festivals aufs Tableau. Ausnahmen, wie Auftritte in Moers, bestätigen die Regel.

Einbremsen ließ sich El’Zabar jedoch nie: Gerade mit seinen Freunden vom AACM wie dem Art Ensemble, oder auch David Murray pflegte er seinen idiosynkratischen synkretistischen Entwurf immer weiter. Es sollte dennoch einige Jahrzehnte dauern bis es wieder ins Rampenlicht ging. Daran hat auch Jazz-Superstar Kamasi Washington seinen Anteil, outetet er sich doch vor ein paar Jahren als Fan des mittlerweile ganz leicht grau gewordenen Percussionisten. Spätestens seit dieser Adelung wurden Feuilletons, Musikzeitschriften und Jazz-Fans auf der ganzen Welt wieder aufmerksam auf dieses glänzende Juwel der Jazz-Kunst. In den letzten Jahren dann der Durchbruch mit mehreren besonderen Platten, die das Spätwerk El’Zabars einläuten, könnte man behaupten: »America The Beautiful«, eine kritische Auseinandersetzung mit der insgeheimen Nationalhymne der USA, muss man nennen. Genauso wie »A Time For Healing« aus diesem Jahr; für viele die beste Platte 2022 bisher.

Text: Lars Fleischmann

Mit über 90 gab der 2016 verstorbene Jean »Toots« Thielemans noch berührende Konzerte. Am 29.4.22 ist der 100. Geburtstag des Mundharmonika-Spielers, Pfeifers, Komponisten und Bandleaders.


Toots Thielemans

Am 29.4.2022 ist der 100. Geburtstag des Gitarristen, Mundharmonika-Spielers, Pfeifers, Komponisten und Band Leaders Jean »Toots« Thielemans, der 2016 verstarb und auch mit über 90 noch berührende Konzerte gab. Es gibt eine Biografie von Marc Danval, die aber nur in französisch und flämisch verfügbar ist 

Jean »Toots« Thielemans wurde am 29. April 1922 in Brüssel, Belgien, geboren. Schon als Kind spielte er Akkordeon, später kamen Gitarre und chromatische Mundharmonika dazu. Schon 1949 jammte er mit Miles Davis und Charlie Parker in Paris: 

1950 tourte er mit Benny Goodman in Europa, hier in einem Konzert in Schweden:

1952 emigrierte Thielemans in die USA und spielte bald mit Charlie Parker. 1953 wurde er Mitglied des George Shearing Quintet. Der blinde englische Pianist war in der Zeit bereits ein Jazz-Star in USA, Thielemans spielte Gitarre. Hier ein Mitschnitt aus Chicago 1953 mit Al McKibbon, Cal Tjader und Bill Clark:

Die Shearing Band im Video 1957: 

Im selben Jahr erschien Toots‘ amerikanisches Debut-Album “Man Bites Harmonica“ (Riverside) mit Pepper Adams, Kenny Drew, Wilbur Ware und Art Taylor:

Seine erfolgreichste Komposition war »Bluesette«, von ihm 1961 erstmals aufgenommen. Der Song wurde zu einem Jazz Standard, auch als Gesangstitel. Hier eine besonders jazzige Gesangsinterpretation von Mel Tormé, aufgenommen beim North Sea Jazz Festival in Den Haag 1981: 

In den 1960er Jahren etablierte Toots die Mundharmonika als Jazz-Instrument und sich selbst als einen internationalen Star. Hier in einer amerikanischen Fernsehshow 1961: 

Mit Peggy Lee und »Makin‘ Whoopee« im amerikanischen Fernsehen: 

1969 spielte Toots sein »Bluesette« mit der legendären brasilianischen Sängerin Elis Regina im schwedischen Fernsehen. Er zeigte seine virtuose Pfeif-Kunst:

Die brasilianische Musik bekam immer größere Bedeutung für ihn. Mit Elis Regina nahm er 1969 ein komplettes Album auf: 

https://www.youtube.com/watch?v=fR6CbVIvZYE

Immer wieder wurde Toots engagiert für Filmmusik. Quincy Jones nahm mit ihm die Musik für »The Getaway« 1972 auf: 

1974 nahm er Michel Legrand’s »The Summer Knows« als Thema des Films »Summer of ‘42« auf: 

Toots blieb auf dem Laufenden hinsichtlich musikalischer Entwicklungen. Hier im Konzert mit E-Bassist Jaco Pastorius 1979, mit dem ihn eine generationsübergreifende Freundschaft verband:

Mit dem Rob Franken Trio mit Rob Langereis und Bruno Castellucci trat er 1982 in Lugano auf:

1987 spielte Thielemans beim ZDF Jazz Club in Stuttgart mit Fred Hersch, Harvie S und Adam Nussbaum:

https://www.youtube.com/watch?v=WWgT91uDy7s

Quincy Jones lud Toots zu seinem Konzert mit George Benson und Rachelle Farrell in Montreux 1991 ein, hier mit der Gänsehaut-Interpretation von »Everything Must Change«:

1994 trat Toots mit seinem Brazil Project bei Umbria Jazz auf, u.a. mit Ivan Lins und Eliane Elias:

Pianist Kenny Werner war ein musikalischer Vertrauter, mit dem Toots oft zusammenwirkte, auch vielfach in Deutschland. Hier beim Jazz Baltica Festival 1998: 

1999 wurde Stevie Wonder der Polar Music Award in Schweden verliehen. Gemeinsam mit Toots spielte er dessen »Bluesette«, beide an der Mundharmonika: 

Die WDR Big Band spielte 2004 mit Toots und Jeff Hamilton »Killer Joe« in Bühl: 

Mit Richard Galliano’s New York Trio mit Scott Colley und Clarence Penn trat Toots 2004 in Berlin auf: 

Jamie Cullum war sein Gast beim North Sea Jazz Festival 2007 in Rotterdam:

Bei Jazz Middelheim (Antwerpen) 2008 mit Kenny Werner, David Sanchez, Johannes Weidenmueller und Cindy Blackman:

2009 wurde Toots als NEA Jazz Master ausgezeichnet, der höchsten Ehre für Jazz-Musiker in USA, die nur sehr selten an Ausländer verliehen wird. 

Auch mit 90, im Rollstuhl und mit Asthma-Problemen, gab er noch berührende Konzerte, hier in Lüttich 2012: 

Einen seiner letzten öffentlichen Auftritte hatte Toots mit Philip Catherine in La Hulpe, Belgien, 2014:

Sie waren über Jahrzehnte eng befreundet – Quincy Jones und Toots 2014: 

Toots im Interview über seine Karriere: 

Toots starb 2016. Viele Musiker halten die Erinnerung an ihn wach. Hier Gregoire Maret und Kenny Werner in Köln 2018: 

Zum 100-sten Geburtstag wird es zahlreiche Tribute Konzerte geben, u.a. mit dem Metropole Orkest, das schon 2017 mit Martijn Luttmer an Toots erinnerte: 

Lang lebe Toots – zwischen einem Lächeln und einer Träne!

Text: Hans-Bernd Kittlaus

https://youtu.be/zFA0FYQo0Gg
1963
0:00 Solo Dancer 
6:40 Duet Solo Dancers 
13:23 Group Dancers 
20:45 Trio and Group Dancers/ Single Solos and Group Dance/ Group and Solo Dance 
Besetzung:
Charles Mingus — bass, piano, composer
Jerome Richardson — soprano and baritone saxophone, flute
Charlie Mariano — alto saxophone
Dick Hafer — tenor saxophone, flute
Rolf Ericson — trumpet
Richard Williams — trumpet  
Quentin Jackson — trombone
Don Butterfield — tuba, contrabass trombone
Jaki Byard — piano
Jay Berliner — acoustic guitar
Dannie Richmond – drums

Dieses Werk, ursprünglich als Ballettmusik (siehe die Untertitel) geplant, wird von vielen als Meisterwerk des großartigen Bassisten und Komponisten Charles Mingus eingestuft und wurde dementsprechend mehrfach ausgezeichnet. Für mich ist es jedenfalls die Komposition, die sein Bemühen, seine Leidenschaft, aber auch die Zerrissenheit des nicht einfachen Menschen Charles Mingus am ehesten zum Ausdruck bringt, ein »Meilenstein des Modernen Jazz«. Mingus selbst hat dazu gemeint:  »Werft alle meine Platten mit einer Ausnahme weg.« Die Aufnahme sei eine Art »Grabrede zu Lebzeiten« auf ihn selbst, »von der Zeit meiner Geburt bis zu den Tagen, als ich das erste Mal Bird und Dizzy hörte«. Der Hintergrund des Titels bleibt ungeklärt: Ein Heiliger, der für seine Sünden und die der Menschheit büßt?  Oder doch eine Anspielung auf die Situation in seinem Elternhaus? Charles Mingus hat die Antwort mit ins Grab genommen….. Seine Musik wird unvergessen bleiben…. Und Charlie Mariano mit seinem unverwechselbaren Stil auf dem Altsaxophon (ab 17:52) ebenso …


Jochen Axer, Unterstützer des King Georg und über die Cologne Jazz Supporters Förderer vieler weiterer Jazz-Projekte, stellt hier jeden Sonntag einen seiner Favoriten vor.

Das Code Quartet bezieht sich auf die Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit des Free Jazz. Dabei swingt es, dass einem das Herz aufgeht. Am 28.4. spielt es im King Georg – als Trio.

Code Quartet

Ornette Coleman erzählte einst die Geschichte, wie er seiner Mutter als Kind Saxofon vorspielen wollte, doch statt großem Interesse, erntete er bloß diese eine Lektion fürs Leben: »Junior, ich weiß, wer du bist.«

Coleman war ein Musiker, der wusste, dass man über gespielte (und auch ungespielte) Töne sein Innerstes offenbaren konnte. Und selbst er, der Musik revolutionierte und mit seiner Version des Free Jazz Türen und Toren für das Zerebrale als (post-)modernes Element des Jazz implantierte, war ein Gefühlsmensch. Vielleicht einer der größten der langen Tradition des Jazz.

Nun könnte man den Vergleich mit Coleman fürchten – oder ganz aktiv suchen. Christine Jensen aus Montreal ging vor einigen Jahren in die Offensive und suchte drei Mitstreiter, um eine der legendärsten Kombos der Geschichte wiederzubeleben. Um genauer zu sein, handelt es sich beim Code Quartet um eine Re-Inkarnation. Der Geist von Coleman, von Don Cherry, von Charlie Haden am Bass und Billy Higgins an den Drums: Sie alle haben neue Gefäße gefunden.

Belebender als eine Kanne Kaffee

Es ist nicht so, dass man das direkt hört, wenn man sich das letztjährige Album »Genealogy« des Quartetts anhört, das außer Jensen eben aus Jim Doxas (drums), Adrian Vedady (bass) und dem Trompeter Lex French besteht. Zumindest erschließt es sich nicht unmittelbar. Das Code Quartet kommt im Zweifel ohne die großen, eindeutigen Gesten aus. Man muss eben nicht sofort in die Vollen gehen, um zu beweisen, dass man Free Jazz spielen kann, will und wird. Nein, wohlfeile Befindlichkeitsbefriedigung sucht man vergebens. »Tipsy«, der Opener, ist deswegen ein swingender und lockerer Blue-Note-Jazz, Mitte 1950er ungefähr, mit einer Vorliebe für die populären Tanzmuster. Angetrieben wird die Maschine von Doxas, der hier so saftig swingt, dass moderne computergersteuerte Notationsverfahren womöglich ordentlich ins Schwitzen kommen. Aber auch der Rest der Band hat den Swing im Blut – Lebendigkeit, ick hör’ dir trapsen. Belebender als eine Kanne Kaffee.

Der Titeltrack »Genealogy«, geschrieben von Trompeter French – ja, man teilt sich hier die Komposition auf -, lässt es dann erstmals krachen. Flott geht man rein, im neuerdings Fußball-verrückten Kanada würde man wohl »Kick and Rush« dazu sagen. Der Ball segelt also mit einer kurzen Drum-Improvisation in den Strafraum, und ab hier nimmt das durchaus kontrollierte Chaos seinen Lauf. Jeder darf mal, es wird aus vollen Rohren draufgehalten – nach zwei Minuten hüpfen dann Drums, Bass und French an der Trompete in eine andere Zeitrechnung. Helle Freude! Biblische Verhältnisse! Tohuwabohu!

Nach Hause kommt man trotzdem immer wieder. Es wird eine feines Florett geschwungen – langsam, schneller, verrückt und konzentriert. Als wäre es zu dem Zeitpunkt nicht genug des Einfallsreichtums, wendet man sich sogleich dem Puritaner-Traditional »O Sacred Head, Now Wounded« zu, das bis heute in methodistischen und baptistischen Gemeinden in Nordamerika angestimmt wird. 

Was das alles exemplarisch zeigt: Berechnbarkeit ist nicht das Ding des Code Quartets, keineswegs. Dementsprechend verwundert es kaum, dass es im King Georg zu einer auf den ersten Blick doch seltsam anmutenden Verkleinerung kommt. Das Quartett kommt zu dritt – das Saxofon passt aus Gesundheitsgründen. Was wie ein Schönheitsfehler wirkt, ist tatsächlich keiner. Free Jazz wird nur sehr ernst genommen in seiner Befreiungsbewegung, das Kollektiv steht im Mittelpunkt – gleiche Rechte für alle. Was wie ein Coleman-Slogan wirkt, ist dennoch nicht ganz so plakativ und billig: Wer sich befreien möchte, der löst sich vom Gedanken der Front- und der Sidemusicians, dem Diktum des Besitzanspruches auf Ideen und Songs, auf die modale Variabilität der Parts. Code Quartet (als Trio) heißt folglich: Free Jazz de-codiert.

Text: Lars Fleischmann

Charles Mingus zählt zusammen mit Ellington und Monk zu den bedeutendsten Komponisten des Jazz. Viele seiner Stücke sind längst Standards. Am 22. April wäre der 1979 verstorbene Bassist und Bandleader 100 Jahre alt geworden.


Charles Mingus

Am 22.4.2022 ist der 100. Geburtstag des Bassisten, Komponisten und Bandleaders Charles »Charlie« Mingus, der bereits im Jahre 1979 nach langem Kampf mit ALS verstarb. Es gibt eine Vielzahl von Büchern über Charles Mingus, zum Beispiel seine Autobiografie »Beneath The Underdog« , Brian Priestley: »Mingus: A Critical Biography« und Sue Mingus (seine letzte Ehefrau): »Tonight at Noon«

Charles Mingus wurde am 22. April 1922 in Nogales, Arizona, geboren und wuchs im Stadtteil Watts in Los Angeles auf. Er hatte afro-amerikanische, chinesische, südamerikanische und europäische Wurzeln. Er spielte schon als Kind Posaune und Cello. Erst später wechselte er zum Bass. Er konnte zunächst keine Noten lesen, beschäftigte sich dann als Twen umso internsiver mit Kompositionstechniken. 

Als Bassist bekam er schon mit Anfang 20 Anerkennung und spielte mit renommierten Musikern wie Buddy Collette, Barney Bigard und Louis Armstrong. HIER spricht Buddy Collette 1999 im Interview über diese Zeit.

Mitte der 1940er Jahre spielte Mingus in der Band von Lionel Hampton, der seine Komposition »Mingus Fingers« 1947 aufnahm:

Um 1950 spielte Mingus im Trio des damals populären Vibraphonisten Red Norvo gemeinsam mit Gitarrist Tal Farlow, hier mit »Move«:

Gemeinsam mit Max Roach, dem bedeutenden Schlagzeuger, gehörte Mingus zu den ersten Musikern, die ein eigenes Label starteten. Debut Records begann 1952. Ihre erfolgreichste Veröffentlichung eine Live-Aufnahme, die sie 1953 mit den großen Beboppern Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Bud Powell in Toronto machten und als »Jazz at Massey Hall« herausbrachten: 

https://www.youtube.com/watch?v=goyApscIEwc

1953 spielte Mingus kurze Zeit in der Big Band seines großen Vorbilds Duke Ellington. Doch seine explosive Persönlichkeit – er war dafür bekannt, immer ein Messer bei sich zu tragen – führte dazu, dass Ellington ihn rausschmiss. 

Mingus‘ Karriere kam nun richtig in Fahrt. Über den 10-Jahres-Zeitraum von 1955 bis 1965 brachte er 30 Alben unter seinem Namen heraus, darunter viele, die bis heute als Meisterwerke gelten, zum Beispiel »Pithecanthropus Erectus« 1956:

1960 trat Mingus in Antibes auf mit Eric Dolphy + Bud Powell + Ted Curson + Booker Ervin + Danny Richmond. Daraus entstand eine erfolgreiche Doppel-LP. Hier Video-Aufnahmen des Auftritts:

»I’ll Remember April«: 

Nachträglich koloriert: 

»Wednesday Night Prayer Meeting«: 

Trotz ihres früheren Zerwürfnisses kamen Mingus und Ellington 1961 im Studio zusammen für die Trio-Aufnahme »Money Jungle« mit Schlagzeuger Max Roach:

Als Komponist versuchte sich Mingus auch an größeren Werken. Sein zweistündiges Epos »Epitaph« schlug bei der Erstaufführung in der New Yorker Town Hall 1962 grandios fehl. 1989, zehn Jahre nach Mingus‘ Tod erfolgte dann eine erfolgreiche Aufführung unter Leitung von Gunther Schuller in New York. Hier ein Ausschnitt aus der Aufführung im Rahmen der Berliner Jazztage 1991:

Für seine Europe-Tournee 1964 hatte Mingus seine wohl stärkste Band seiner Karriere beisammen mit Eric Dolphy, Clifford Jordan, Johnny Coles, Jaki Byard und Danny Richmond. Zu unserem Glück gehört die Tour zu den bestdokumentierten Tourneen einer amerikanischen Band zu jener Zeit. Zahlreiche Fernseh- und Tonaufzeichnungen sind erhalten geblieben. Hier Aufnahmen aus Belgien, Norwegen und Schweden:

Dolphy starb wenige Tage später in Berlin, was Mingus in tiefe Depression stürzte, die über Jahre anhielt. 

Danach – ab ca. 1970 – hatte Mingus eine letzte Hochphase mit neuen Bands, hier in Oslo 1970 mit Eddie Preston, Charles McPherson, Bobby Jones, Jaki Byard und Dannie Richmond:

In München trat er 1972 mit Jon Faddis, Charles McPherson, Bobby Jones, John Foster und Roy Brooks auf:

Bei den Berliner Jazztagen 1972 trat er auf mit Joe Gardner, Hamiet Bluiett, John Foster und Roy Brooks und als Gast Ellington-Trompeter Cat Anderson:

Seine letzte großartige Band bestand aus Don Pullen, Hamiet Bluiett, George Adams und Dannie Richmond, hier beim Umbria Jazz Festival 1974:

https://www.youtube.com/watch?v=9tBSfErtyRk

In Montreux 1975 spielte Mingus mit Jack Walrath, George Adams, Don Pullen und Dannie Richmond und den Gästen Benny Bailey und Gerry Mulligan:

Danach raubte die schreckliche Krankheit ALS Mingus zunehmend die Kräfte. Er starb am 5. Januar 1979, seine Frau Sue verstreute seine Asche auf seinen Wunsch im Ganges in Indien.

Sue Mingus hat die Erinnerung wachgehalten durch die Mingus Big Band und weitere Formationen, die Mingus‘ Musik bis heute auf höchstem Niveau spielen. Hier die Mingus Big Band in Burghausen 1999:

Mingus zählt zusammen mit Ellington und Monk zu den bedeutendsten Komponisten des Jazz. Regelmäßig erscheinen bisher unveröffentlichte Live-Aufnahmen. Viele seiner Kompositionen sind zu Jazz-Standards geworden. Seine Musik lebt weiter.

Text: Hans-Bernd Kittlaus

Jimmy Smith gilt als der bedeutendste Erneuerer des Orgelspiels im Modern Jazz. Er revolutionierte den Einsatz der B-3-Hammondorgel und machte den Hammond-Sound weltweit populär. Mit seiner von Blues und Gospel stark geprägten funky Spielweise gilt er als ein wichtiger Vertreter des Hard Bop und Soul Jazz. Er nahm in seiner mehr als 50 Jahre langen Karriere mehr als 150 Platten auf. Wenn auch weniger bekannt, ist mein Favorit »Hobo Flats« aus 1963. 

Viel bekannter aber wurde beispielsweise »Walk on the Wild Side«, hier in einer Aufnahme aus dem Jahr 1993 aus der Carnegie Hall mit deren Big Band. 

https://youtu.be/y49ob8r_ows

Der guten Ordner halber hier die Originalaufnahme aus dem Jahr 1962 als erste Einspielung bei Verve. 

Wer Spaß an dieser Musik hat, dem sei dann auch die House Party aus 1957/1958 ans Herz gelegt mit einer fantastischen Besetzung

0:00 Au Privave (A1) 
15:10 Lover Man (A2) 
22:11 Just Friends (B1) 
37:25 Blues After All (B2)

Alto Saxophone – George Coleman (tracks: B1, B2), Lou Donaldson (tracks: A1, A2) 
Drums – Art Blakey (tracks: A1), Donald Bailey (tracks: A2 to B2) 
Guitar – Eddie McFadden (tracks: A2, B1), Kenny Burrell (tracks: A1, B2) 
Organ – Jimmy Smith 
Tenor Saxophone – Tina Brooks (tracks: A1) 
Trombone – Curtis Fuller (tracks: B1, B2) 
Trumpet – Lee Morgan (tracks: A1, B1, B2)

Und wer sich noch mehr mit James O. („Jimmy“) Smith auseinandersetzen will, dem sei die knapp einstündige Dokumentation des NDR aus dem Jahr 1965 über das Jimmy Smith Trio mit keinen geringeren als Billy Hart am Schlagzeug und Quentin Warren an der Gitarre. Mit Einblicken in die 60er Jahre sowohl des Rassismus als auch des Geldverdienens……Und mit welchem Stück endet dieser Film?….»Walk on the Wild Side«.


Jochen Axer, Unterstützer des King Georg und über die Cologne Jazz Supporters Förderer vieler weiterer Jazz-Projekte, stellt hier jeden Sonntag einen seiner Favoriten vor.

2022, Planet Arts

Pete Malinverni – der Name wird den meisten Jazz-Fans kein Begriff sein. Dabei ist der Pianist, Komponist, Lehrer und musikalische Leiter schon seit 40 Jahren anerkanntes Mitglied der New Yorker Jazz-Szene. Sein Klavierspiel steht in der Tradition von Hank Jones und Tommy Flanagan, also feinstes Gespür für Harmonik und Struktur sowie kreative Improvisation, die sich nie zu weit von der Idee des Komponisten entfernt, basierend auf solider Handwerkskunst. All das demonstriert Malinverni hier im Trio mit Bassist Ugonna Okegwo und Schlagzeug-Meister Jeff Hamilton. Das Programm besteht aus Kompositionen von Maestro Leonard Bernstein, der zwar primär der klassischen Musik zugerechnet wird, aber auch beachtliche Werke für den Broadway geschaffen hat. Malinverni spielt Stücke aus »West Side Story«, »On the Town« und »Wonderful Town«. Bekannten Ohrwürmern wie »Somewhere«, »Cool«, »I Feel Pretty« und »Some Other Time« gewinnt das Trio neue Facetten ab, weniger bekannte Stücke wie »Simple Song« und »It’s Love« bieten neue Einsichten in Bernsteins Oeuvre. Am Ende steht Malinvernis Eigenkomposition »A Night On The Town« als Tribute an Bernstein, den Malinverni noch persönlich kennenlernte, wie er in den Liner Notes erzählt. Dieses Album revolutioniert nicht den Jazz, aber wird allen Freunden des klassischen Jazz-Klaviertrios viel Freude machen.    

Text: Hans-Bernd Kittlaus

Ray Brown (b),  Herb Ellis (g), Don Abney (p), Jo Jones (dr).

Ein absoluter Jazzstandard aus den 1930er Jahren und Teil des American Songbook, geschrieben von Cole Porter, von einer Vielzahl von Musikern in ihr Repertoire übernommen. Die Version der großartigen Ella Fitzgerald sticht dabei – aus meiner Sicht – nochmals heraus, denn diese Interpretin war und ist überragend, insbesondere in Kombination mit Ray Brown (b),  Herb Ellis (g), Don Abney (p) und Jo Jones (dr).

Ein fantastisches Konzert mit Ella und Oscar Peterson sei deshalb für diejenigen, die Zeit auf ein ganzes Konzert haben, gerne angeschlossen (Just one of these things ab 45:47).  Dieses Konzert hat auch noch andere Highlights zu bieten: Es startet mit dem Oscar Peterson Trio (Herb Ellis (g), Ray Brown (b)), später ergänzt durch Roy Eldridge (tr) und Joe Jones (dr) – letzterer mit fantastischem Solo ab 22:10 – also eine Traum-Besetzung; im zweiten Teil dann Stuff Smith (vio), Don Abey (p) und eben Ella, die mit »Just of those things« (45:47) startet!

Lyrics

As Dorothy Parker once said
To her boyfriend, “fare thee well”
As Columbus announced
When he knew he was bounced,
“It was swell, Isabel, swell”

As Abelard said to Eloise,
“Don’t forget to drop a line to me, please”
As Juliet cried, in her Romeo’s ear,
“Romeo, why not face the fact, my dear”

It was just one of those things
Just one of those crazy flings
One of those bells that now and then rings
Just one of those things

It was just one of those nights
Just one of those fabulous flights
A trip to the moon on gossamer wings
Just one of those things

If we’d thought a bit before the end of it
When we started painting the town
We’d have been aware that our love affair
Was too hot not to cool down

So good-bye, dear, and amen
Here’s hoping we meet now and then
It was great fun
But it was just one of those things

(nicht autorisierte Übersetzung)

Wie Dorothy Parker einst sagte

Zu ihrem Freund: “Mach’s gut”

Wie Kolumbus verkündete

Als er wusste, dass er geprellt wurde,

“Es war klasse, Isabel, klasse”

Wie Abelard zu Eloïse sagte,

“Vergiss nicht, mir ein paar Zeilen zu schreiben.”

Wie Julia ihrem Romeo ins Ohr rief,

“Romeo, sieh es doch ein, mein Lieber”

Es war nur eine von diesen Sachen

Nur eine dieser verrückten Affären

Eine dieser Glocken, die ab und zu läuten

Nur eine von diesen Sachen

Es war nur eine dieser Nächte

Nur einer dieser fabelhaften Flüge

Eine Reise zum Mond auf hauchzarten Schwingen

Nur eine dieser Sachen

Hätten wir vor dem Ende ein wenig nachgedacht

Als wir anfingen, die Stadt zu streichen

Hätten wir gewusst, dass unsere Liebesaffäre

Zu heiß war, um nicht abzukühlen

Also auf Wiedersehen, Liebes, und Amen

Hoffen wir, dass wir uns ab und zu sehen

Es war ein großer Spaß

Aber es war nur eine dieser Sachen.

Sucht man einen männlichen Interpreten, dann stößt man unweigerlich auf Frank Sinatra, der den Song auf seine unnachahmliche Art darbot:

Und zum Abschluss noch ein Konzertangebot mit der First Lady in Jazz etliche jahre später (1979), aufgenommen beim North Sea Festival – mit Paul Smith (p), Keter Betts (b), Mickey Roker (dr)

00:03:00 »There will never be another you«
00:05:36 »Satin doll«
00:08:48 »Some other spring« 
00:12:40 »Make me rainbows«
00:15:50 »Almost like being in love« 
00:19:04 »After you gone«
00:23:57 »Gingi« 
00:27:22 »Round midnight« 
00:31:27 »Ella hums the blues« 
00:40:12 »You changed« 
00:43:44 »Mr. Paganini«
00:48:32 »Love boat« 
00:52:29 »St. Louis blues«
00:59:10 »I’ve got a crush on you« 
01:04:27 »It’s been a ball«


Jochen Axer, Unterstützer des King Georg und über die Cologne Jazz Supporters Förderer vieler weiterer Jazz-Projekte, stellt hier jeden Sonntag einen seiner Favoriten vor.

Saxofonistin, Komponistin und Sängerin Johanna Klein spielt im April mit ihrem eigenen Quartett und im Duo mit Szymon Wojcik bei uns. Ein Gespräch über künstlerische Entwicklungen, gemeinschaftliche Prozesse und persönliche Erfahrungen.

Johanna Klein

Saxofonistin, Komponistin und Sängerin Johanna Klein wuchs auf in Rüsselsheim und studierte an der Hochschule für Musik und Tanz Köln bei Niels Klein, Roger Hanschel und Claudius Valk.

Schon länger ist sie ein integraler Teil der Kölner Musikszene, spielt mit Musiker*innen aus verschiedenen Genres und Stilen zusammen: Gianni Brezzo, Eva Swiderski’s Trio/Quartett, Matthias Vogt Duo, Jannis Sicker Trio und der Grüne Salon – um nur ein paar zu nennen. Im Zentrum ihres Wirkens steht dennoch ihr eigenes Quartett. Dort sitzt Jan Philipp an den Drums, Nicolai Amrehn bedient den Bass und Leo Engels die Gitarre. Mit dem Quartett gewann sie 2019 den jazz@undesigned Preis und 2021 den Kompositionspreis des Avignon Jazz Festivals in Frankreich.

Nach ihrem Debüt »Cosmos« aus dem letzten Jahr erscheint demnächst die LP »No Shining«. Im April spielt sie gleich zwei Mal in der King Georg Klubbar: mit dem Johanna Klein Quartett am Samstag, den 09.04. und mit dem Projekt Wojcik/Klein am Freitag den 22.4.

Welche Entscheidung kam für Dich zuerst: Ich gehe zum Studieren nach Köln. Oder: Ich will Musikerin werden?

Nach meinem Abitur war für mich klar, dass ich studieren und wegziehen möchte. Eine Großstadt wie Köln fand ich immer reizvoll. Hier gibt es eine große Jazzszene, viel zu erleben und viele meiner Freundinnen und Freunde sind auch hierhergezogen. Allerdings war die Studiumswahl für mich keine eindeutige Entscheidung. Musikerin zu werden kam für mich auf jeden Fall sehr in Frage, ich liebe es schon immer Musik zu machen und brauch das auch, hatte aber große Zweifel, ob ich davon leben kann und will. Letztendlich habe ich dann Lehramt studiert, wollte dafür aber auch unbedingt nach Köln kommen, da man an der Musikhochschule dort den gleichen Zugang zu Instrumentalunterricht, Combos und Veranstaltungen hat wie Kommiliton:innen, die ein reines Instrumentalstudium absolvieren. Die Frage was ich eigentlich will hat mich viel beschäftigt, teilweise immer noch, und ich habe nach Zweifeln darüber ob ich mein Studium abbrechen soll oder nicht dann für mich den Kompromiss gefunden, nach meinem Studiumsabschluss im März 2021 nicht ins Referendariat zu gehen, sondern als Musikerin zu arbeiten, einfach weil ich diesen Wunsch schon so lange in mir trage.

Warum hast du da so gehadert?

Das hat glaube ich viele Gründe. Zum Beispiel habe ich von meinem Elternhaus vermittelt bekommen, dass man als selbstständige Musikerin oder Musiker nicht leben kann. Und es ist ja auch nicht leicht, vor allem wenn man an Themen wie Rente, Kinderkriegen und finanzielle Unabhängigkeit denkt. Ich glaube, ich tendiere auch dazu, manchmal sehr weit in die Zukunft zu denken und vieles zu hinterfragen. Möchte ich mit 50 Jahren noch auf der Bühne stehen? Kann ich es mir leisten, Kinder zu kriegen? Das sind so Fragen, die ich mir schon früh gestellt habe und die mich beeinflusst und manchmal auch blockiert haben.

https://youtu.be/S4cnsZimOBo

Was macht dieses Thema mit dir?

Gerade stößt das eine interessante Entwicklung bei mir an, weil ich mir vorgenommen habe mehr im Hier und Jetzt zu leben und mir die Freiheiten zu nehmen, die ich jetzt gerade brauche um glücklich zu sein. Nur auf eine Zukunft hinarbeiten, die vielleicht auch ganz anders aussehen wird, und dabei unglücklich sein, macht einen ja weder jetzt noch später glücklich. Ich nehme mir eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben diese Freiheiten heraus und lasse mich treiben, kann meinen Drang nach kreativem Schaffen komplett so ausleben wie ich will, weil ich jetzt endlich die Zeit dafür habe. Und das ist ein ungemein befriedigendes Gefühl. Manche Fragen über die Zukunft kann ich ja auch noch ein bisschen ruhen lassen.

Weil du das so explizit angesprochen hast und zugestimmt hast, darüber zu reden: Für dich als Instrumentalistin gibt es ja eben nochmal andere Fragen zu beantworten als es für cis-männliche Kollegen jetzt der Fall wäre. Und obwohl sich ja gerade sehr viel tut, muss ich fragen: Haben deine Zweifel auch mit deinem Frausein zu tun?

Ich glaube, der Ursprung meiner Zweifel ist sehr komplex, aber ich denke auch, dass das Frausein da teilweise mit reinfließt. Es ist nun mal für Frauen schwerer finanziell unabhängig zu sein beziehunsgweise zu bleiben und trotzdem Mutter zu werden. Außerdem ist mir bewusst geworden, dass mir vielleicht auch schlicht weibliche Vorbilder in meinem Werdegang gefehlt haben. Und noch komplexer wird es dann, wenn man an die Erziehung oder Sozialisation von Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft denkt beziehungsweise an meine Erziehung und Sozialisation. Das spielt sicherlich auch eine Rolle – wenn auch eher unterbewusst. Ich finde es super, dass es da gerade ein Umdenken gibt und vieles thematisiert und aufgearbeitet wird. Davon profitiere auch ich – auch wenn die Frage, wie und wann man Gerechtigkeit herstellt, sehr komplex ist.

Johanna Klein Quartett

Du hast gerade davon gesprochen davon »zu profitieren« – was meinst du damit? Und was sind so Probleme, mit denen du konfrontiert warst und bist?

In der Jazzszene findet gerade ein Umdenken statt. Man achtet mehr darauf, dass Frauen gezeigt und präsentiert werden. Ich fühle mich dadurch ermutigt mein Ding zu machen und mich zu zeigen. Ich habe das Gefühl, dass Frauen sich untereinander auch mehr stärken und ermutigen und weniger Konkurrenzgedanken herrschen. Und kein*e Veranstalter*in will sich Sexismus auf die Fahne schreiben. Da der Anteil von Jazzmusikerinnen bislang sehr unterrepräsentiert war, profitiere ich von diesem Umdenken.

Andererseits möchte natürlich kein*e Musiker*in gebucht oder ausgezeichnet werden wegen des Geschlechts, sondern wegen der künstlerischen Leistung. Ich will als Musikerin gebucht werden, nicht als Frau. Mich nervt es, wenn ich als »Frau im Jazz« angekündigt werde und nicht als »Musikerin«. Und gerade dann kommt auch schnell die Retourkutsche, wenn man so Sprüche hört wie: »Das hat sie ja nur bekommen, weil sie eine Frau ist«. Also ab wann ist denn nun Gerechtigkeit hergestellt und ab wann darf man denn als Frau mit Stolz von sich behaupten, dass man ein Konzert spielt oder ein Preis bekommt, weil man eine gute Künstlerin ist? Ich finde das sehr komplex. Auch die Frage, ob man eine Frauenquote einführen sollte oder nicht. Der Anteil von Frauen in diversen Kontexten soll im Idealfall ja nicht von einer Quote abhängen, sondern von der Leistung oder dem Können. Aber vielleicht braucht es die Frauenquote als Übergangslösung, um einen Zustand der Gerechtigkeit beziehungsweise eine Annäherung daran herzustellen. Ich glaube Gerechtigkeit ist ein Idealzustand, an den man sich unendlich annähern kann, der aber nie komplett erreicht wird. Und wir sind immer noch relativ weit davon entfernt, wenn ich so überlege was ich mir teilweise immer noch für Sprüche anhören darf nach Konzerten. Oft bekomme ich von meist männlichem Publikum im Anschluss an ein Konzert Rückmeldung, die sich auf mein Aussehen bezieht, meistens soll ich doch darauf achten mehr zu lächeln auf der Bühne. In einem Interview zu meinem ersten Album wurde ich gefragt, inwiefern meine Musik dadurch beeinflusst wird, dass ich eine Frau bin. Ich glaube, sowas müssen sich Männer nicht anhören.

Die Frage bezieht sich jetzt auf das Quartett, mit dem du am 8.4. auch im King Georg spielst: Wie ist eigentlich das Verhältnis von dir zwischen »live spielen« und »eine Platte aufnehmen«?

Für mich waren das lange zwei grundverschiedene Dinge, die ich aber immer mehr versuche in Einklang zu bringen. Letztendlich gibt es in beiden Situationen einen begrenzten zeitlichen Rahmen, in dem man zeigen möchte, was man kann. Im Konzert verpuffen die Momente aber wieder, was mir hilft, mehr den Moment zu genießen. Auf einer Aufnahme bleibt das für die Ewigkeit festgehalten. Natürlich kann man im Studio dafür mehrere Takes machen, bis man zufrieden ist. Aber das Bewusstsein darüber, dass es jetzt drauf ankommt und dass die Aufnahme dann für immer festgehalten und veröffentlicht sein wird, ist einfach ein anderes. Insofern war für mich die Aufnahme meines ersten Albums mit viel mehr Aufregung und Druck verbunden, als vor einem Konzert. Das war jetzt beim neuen Album zum Glück anders.

Und jetzt erscheint deine zweite Platte »No Shining«. Wie war es bei der?

Da ging es mir persönlich deutlich anders. Nicht nur musikalisch ist seitdem in der Band viel passiert, sondern auch meine eigene Einstellung hat sich geändert. Ich bin deutlich gelassener in die Situation gegangen, was vielleicht auch mit unserer musikalischen Entwicklung zu tun hat. Seit der Aufnahme der ersten Platte haben wir als Band angefangen, immer öfter auch frei zu improvisieren und uns peu à peu zu lösen von vorher festgelegten Formen und Abläufen. Ich habe mich auch mehr gelöst von dem Anspruch, einer bestimmten Stilistik gerecht werden zu wollen oder so zu spielen, dass es anderen gefallen könnte. Ich spiele jetzt viel mehr das was mir selbst auch gefällt. Ich habe angefangen, verschiedene Klangmöglichkeiten meines Instruments und auch meine Stimme zu nutzen, auch mal bewusst »unschön« und »krachig« zu spielen. Da geht es dann nicht mehr um Perfektionismus und Bewertungskriterien, sondern viel mehr um Energie und Spielfreude. Und wenn ich frei improvisierend spiele habe ich keine andere Wahl als im Moment zu sein.

https://www.youtube.com/watch?v=pQKK8hpdclA

Und das konntet ihr für die zweite Platte ins Studio übertragen?

Genau. Ich hatte zwar drei, vier Kompositionen vorbereitet, die wir auch aufgenommen haben. Die sind aber letztendlich nicht auf der Platte gelandet.

Hat das für dich auch etwas mit Vertrauen zu tun?

Auf jeden Fall. Sowohl Vertrauen in den Prozess als auch Vertrauen innerhalb der Band. Wir spielen jetzt schon einige Jahre zusammen und wissen, wie wir als Kollektiv gut funktionieren. Dazu kommt das Vertrauen auch in einen selbst, dass es schon gut so ist wie man spielt.

Gab es daneben noch andere Einflüsse für die musikalische Entwicklung – weg vom European Modern Jazz, hin zu einem freien Jazz-Ansatz mit Pop-Appeal?

Die Einflüsse, die in den letzten Jahren hinzukamen, sind gar nicht mehr so sehr mit typischem Jazz assoziiert. Natürlich finde ich Jazzmusiker*innen wie die Saxophonistin Lotte Anker oder Peter Brötzmann großartig. Gerade während Corona haben mich aber vor allem Musiker*innen interessiert, die eher zum experimentellen Pop gehören wie beispielsweise Mija Milovic, JFDR oder Tirzah. Oder auch mal sowas wie peruanische Volksmusik oder zentralafrikanische Pygmy Musik. Das heißt ja nicht, dass ich dann genau so klingen will, sondern dass ich es mir gerne anhöre und mich das in meinem musikalischen Schaffen inspiriert.

Mit dem Quartett spielst du am 8.4. im King Georg. Was kann man dann eigentlich erwarten? Eine Wiederaufführung der Platte oder etwas, was gar nicht damit zu tun hat?

Die Frage haben wir uns im Vorhinein auch gestellt. Die frei improvisierten Aufnahmen aus dem Studio sind super geworden. Will man das dann reproduzieren, geht das überhaupt? Letztendlich kann beides passieren. Alles kann, nichts muss.

Am 22.4. spielst du mit einem anderen Projekt im King Georg. Wojcik / Klein. Was kann man da erwarten?

Szymon Wojcik und ich haben unsere eigene Klangästhetik gefunden, die nochmal ganz anders ist als das, was ich sonst so mache. Wir nutzen beide Electronics, arbeiten mit Laptops und Effektpedalen und erzeugen und verfremden Klänge. Szymon nutzt dazu seine Gitarre. Hier und da können auch songhafte Stücke entstehen. Ich nutze vor allem meine Stimme, weniger das Saxophon. Es ist jedenfalls ein komplett anderes Konzert als jetzt am Samstag und ich freue mich total auf beide Konzerte und auch die Abwechslung!

Interview: Lars Fleischmann

Thelonious Monk (p), Charlie Rouse (ts), Larry Gales (b), Ben Riley (d).

Eine Komposition von einem der ganz großen des modernen Jazz, Thelonious Monk (1917-1982). Und daher geört die Monk-Version auch an die Spitze der Versionen.

Da diese Woche Romy Camerun dem King Georg die Ehre gibt, will ich gerne ihre Vokal-Version, die ich wunderbar gelungen finde, sofort anschließen:

Romy Camerun (voc, p), Marcello Albrecht (b), Oliver Spanhut (dr) 

Softer than silk  

And as warm as warm milk  

Light as air 

and able to fly 

Blossoms know bliss 

While they’re waitin 

for her kiss

 Pannonica my butterfly 

Fluttering one 

Fair and bright as the sun light 

as wind embracing 

the sky Colorful wings  

Soft and gaily painted things 

Pannonica my butterfly 

Like the lovely flowers 

I wait for hours  

Just to feel that touch 

The touch that I love so much 

One day she’ll flutter by 

I’ll hold out my hand 

And capture my butterfly 

Delicate things  

Such as butterfly wings 

Poets can’t describe  

Though they try 

Love played a tune 

When she stepped from her coccoon 

Pannonica my butterfly

Spannend an diesem Song ist nicht zuletzt die Historie: Denn er ist gewidmet der Baroness Kathleen Annie Pannonica de Koenigswarter (geborene Rothschild; 10. Dezember 1913 – 30. November 1988), einer in Großbritannien geborenen Jazz-Mäzenin und Schriftstellerin. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg In New York wurde sie zu einer Freundin und Mäzenin führender Jazzmusiker. Sie veranstaltete Jam-Sessions in ihrer Hotelsuite, half ihnen manchmal bei der Bezahlung der Miete, beim Einkauf von Lebensmitteln und bei Krankenhausbesuchen. Wegen ihrer Förderung von Thelonious Monk und Charlie Parker wird sie als »Bebop Baroness« oder »Jazz Baroness« bezeichnet. Sie besuchte regelmäßig viele New Yorker Jazzclubs, darunter das Five Spot Café, das Village Vanguard, das Birdland und das Small’s. 1957 kaufte sie ein neues Klavier für das Five Spot, weil sie der Meinung war, dass das vorhandene nicht gut genug für Monks Auftritte dort war. Sie – als weiße Frau –  schützte den dunkelhäutigen Monk sogar vor strafrechtlicher Verfolgung und riskierte eine eigene langjährige Gefängnisstrafe. 

Nachdem Monk Mitte der 1970er Jahre seine öffentlichen Auftritte beendet hatte, zog er sich in das Haus von de Koenigswarter in Weehawken, New Jersey, zurück, wo er 1982 starb. Sie nutzte ihr Vermögen, um die Beerdigungen und Grabstätten mehrerer befreundeter Jazzmusiker zu bezahlen, darunter Bud Powell, Sonny Clark und Coleman Hawkins. Ihr sind zahlreiche Kompositionen gewidmet: Neben Thelonious Monks »Pannonica« etwa Gigi Gryces »Nica’s Tempo«, Sonny Clarks »Nica«, Horace Silvers »Nica’s Dream«, Kenny Dorhams »To Nica«, Kenny Drews »Blues for Nica«, Freddie Redds »Nica Steps Out«, Barry Harris’s »Inca«, Tommy Flanagan’s »Thelonica«, Frank Turner’s »Nica« und wurden alle nach ihr benannt.. Ein berühmter Jazzclub in Nantes, Frankreich trägt den Namen »Le Pannonica«.

Wer Zeit hat, dem sei der 80-minütige BBC-Beitrag zu der »Jazz Baroness« (und Monk) ans herz gelegt.

Schließlich noch eine Instrumental-Version mit Chick Corea (p), Miroslav vitous (b) und Roy haynes (d)

und eine Vocal-Version mit der großartigen Carmen McRae

Zum Abschluss aber eine Version von Monk (Ehre wem Ehre gebührt): als Auszug aus dem Projekt »brilliant corners« mit Sonny Rollins, Ernie Henry, Clark Terry

https://youtu.be/d4rzoIL_1CA


Jochen Axer, Unterstützer des King Georg und über die Cologne Jazz Supporters Förderer vieler weiterer Jazz-Projekte, stellt hier jeden Sonntag einen seiner Favoriten vor.