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Anti-Entfremdungsmusik

Kaum ein anderer hat innerhalb der Musik Chaos und Harmonie derart gekonnt vereint wie Don Cherry. Porträt eines Reisenden vor den Tribute-Konzerten des Ethnic Heritage Ensembles.

Don Cherry 1975

Don Cherry mit kratzigem Amulettketchen, Don Cherry im Gewand. In einer europäischen Landschaft, hügelig und harmlos, ein auffallend archaischer Geist hier in dieser unbefleckten Umgebung, in Schweden, irgendwann Ende der 1960er. Oder, um die gleiche Zeit herum, im beschaulichen Donaueschingen, vor einem Konzert, im Lotussitz.
Schnell assoziiert man zu diesem Bild den bunten Lee »Scratch« Perry, wie er einige Jahrzehnte später in den Alpen abhängt und da neben Ziege und hechelndem Hirtenhund einen ebenso intensiven Ausdruck an Welt- und Kulturgeschichte und auch queerness in die Landschaft fräst, diese Landschaft aus unberührten Kräutern, Bienchen und frischer Luft.

Zwei Pioniere, die da zu unterschiedlichen Zeiten zwischen Birken und Fichten hin- und her streiften. Hier Perry, Pate des Dubs, und dort, einige Zentimeter weiter links auf dem Zeitstrahl, Don Cherry. Einer der Erfinder des Free Jazz. Für einige sogar die prägendste Figur in der Genese des Genres.
Don Cherry kommt 1936 in Oklahoma City auf die Welt, als Sohn einer Choctaw und eines Schwarzen, und wächst dann in Los Angeles auf. In Watts. Im Ghetto also. Seine Eltern betreiben einen Jazzclub in Tulsa, die Oma eine Seemannspension, auf dem Klavier vertont sie Stummfilme. Die Berge, die der junge Don Cherry als Fluchtpunkt jenseits des Ghettos fixiert, verschwinden nach einigen Jahren am Horizont, unsichtbar gemacht von der zunehmenden Luftverschmutzung. So ist alles direkt angelegt: Der Jazz – offensichtlich –, aber auch das Multikulturelle und Multiethnische, als auch das Streben nach Verbindung mit der Natur. All das wird Cherrys Musik in ihrem Kern ausmachen. Mehr Privates und Anekdotisches soll hier gar nicht hin. Denn dafür ist einfach viel zu viel Musik. Alleine die Namen. Die Musiker, mit denen Don Cherry spielte: Ornette Coleman; John Coltrane, Sonny Rollins; Steve Lacey, Archie Shepp und John Tchicai; Terry Riley, La Monte Young; Johnny Dyani, Okay Temiz, Lou Reed, Collin Walcott,  Naná Vasconcelos, Charlie Haden UND SO WEITER. 

Eingebauter Weltempfänger

Die Meilensteine kann sich jede*r Leser*in schnell selbst zusammensuchen. Ornette Colemans »Something Else«. »The Avant-Garde« mit Coltrane am Saxophon, Charlie Haden am Bass und Ed Blackwell am Schlagzeug.  Danach die New York Contemporary Five. Und alles, was in den folgenden 20, 30 Jahren entstand. Man könnte sich seitenlang abarbeiten an Großwerken, Zusammensetzungen, Stilbrüchen, damit aber umreißt man das Phänomen Don Cherry nur, näher kommt man dem Wesen seines Schaffens damit jedoch nicht. Das gelingt eher, wenn man versucht, den Geist zu beschreiben; den Spirit, aus dem heraus Cherrys Musik und Sounds entstehen; den sie dann wiederum abgeben, an ihre Umwelt, wie in einem ganz natürlichen Kreislauf.

»Nicht meine Musik«

Ein Bild: Don Cherry, Kopfhörer auf den Ohren, mit eingebautem »Weltempfänger«. Rund um die Uhr habe er damit Klänge von überall her empfangen können, so eine vom Vibraphonisten Karl Berger übermittelte Legende. Ein anderes Bild: Don Cherrys kleine Trompete. Das wichtigste Markenzeichen des Musikers. Ein Geschenk von Boris Vian, der sie wiederum von einem Musiker der Josephine-Baker-Revue bekommen haben soll. Da hängt schon in der Patina des Instruments die Geschichte und der Charakter für eine dreiteilige Arte-Doku. Don Cherry trug sie, die Trompete, eingewickelt in ein Hippie-Tuch, im Rucksack durch die Gegend. Trug seinen Rucksack eh viel durch die Gegend.

»Erstmal«, sagte Don Cherry einst, »ist das nicht meine Musik. Es ist eine Kombination verschiedener Erfahrungen, verschiedener Kulturen, verschiedener Komponisten.«

Don Cherry war nicht nur Free-Jazz-Wegbereiter, man muss ihn auch als Vorreiter der »Fourth World«-Musik begreifen, wie sie mehr als ein Jahrzehnt später von Jon Hassell ausformuliert wurde. Don Cherry lebte in Afrika und Asien, reiste jahrelang mit seiner Familie als Organic Music Theatre in einem Kleinbus durch Europa, studierte bei Musiker:innen in der Türkei, in Marokko, bevor er in der schwedischen Provinz Skåne ein Heimat fand. Immer erweiterte Don Cherry seinen Horizont, studierte bei Pandit Pran Nath karnatische Gesänge, übte sich in ›primitiven‹ afrikanischen Instrumenten, pilgerte. Fand überall Ahnen seiner Ideen und Verbündete im Zugang zur Musik. Immer spielte er auch weiter auf den Straßen. New York, Bombay, Tokio, Los Angeles. 

Kein Typ für Höhenflüge

Dabei gelang es ihm, aus Aufeinandertreffen Zusammenkünfte zu machen. Spätestens seit »Complete Communion« (1966) zählte das auch für Aufnahmeprozesse von Platten. Hier steht zwar Don Cherry als Leader drauf, aber tatsächlich tritt Cherry selbst hier zurück, lässt bewusst seine Taschentrompete im Schatten von Barbieris riesigem Saxophon tuten; teilweise verschwindet sie fast ganz im Chaos. Bewusst bricht er damit mit dem tradierten Vorstellung, allein das Lead-Instrument sei im Jazz für die Höhenflüge verantwortlich. Hier begreift Cherry den Lead als erdendes, ausgleichendes Element.

Letztlich ist auch das nicht entscheidend. Ein Ausdruck für musikalische Freiheit von vielen. Folgt halt ein neuer. Was wesentlich bleibt, ist eben jene ritualisierte, spirituell aufgeladene Gemeinschaftlichkeit, das Erforschen von Sounds und Melodien über geteiltes, spontanes Erfahren – das ›Innere‹ der Musizierenden als Ausgangspunkt, den es in Schwingung zu versetzen gilt, die Transzendenz als Ziel. Verbundenheit und Grenzenlosigkeit, da wollte Don Cherry hin mit seinem Schaffen. Wetteifern, Ego, damit wollte Don Cherry nix zu tun haben. 

Er überprüfte seine Musik nicht auf ihre Verwertbarkeit, sondern suchte in all ihren Ausprägungen nach Möglichkeiten für Freude. In aller Konsequenz und Opferbereitschaft tat er das, schlief hier und dort, teilweise heimatlos, mittellos, manchmal auch hungrig. Ort seiner Suche blieb stets das dehnbare Feld musikalischer Brillanz. Die Suche nach dieser Brillanz und dem ihr innenliegende Potential für Glückseligkeit sind für Don Cherry die Triebfeder des Free Jazz: Alle Dogmen werden über den Haufen gepustet – mit dem Ziel über Improvisation neue Formen von höchstem musikalischen Ausdruck zu finden und in neue Dimension des Spielens und des Hörens vorzudringen. Seinen Schüler:innen lehrte Cherry, dass eine Sensibilität für Klänge das Allerwichtigste für das Musikmachen sei, und sie stets die Lauscher offen halten sollten für »Ghost Sounds«, unerwartete Resonanzen und Rhythmen, die während des Musizieren entstünden.

Geist, Ghost, Spirit

Don Cherry im Gewand. Bunte Tücher an der Wand. Don Cherry an der Doussn’ Gouni, der Steghalslaute aus Mali. Ein repetetiver Rhythmus, trance-artig, Cherry selbst hört darin auch den Blues, hört B.B. King, John Lee Hooker, das Rattern der Lokomotive. Um ihn herum dürfen die Musiker:innen improvisieren. Don Cherry mit geschlossenen Augen und zuckender Gesichtsmuskulatur. Er spielt und fühlt sichtbar den Anschlag jedes einzelnen Instruments in der Runde. Don Cherry mit der Schubkarre. Don Cherry mit der Sense. Don Cherry in der Natur.

Das ist, was man bis heute in allen Tönen, in jedem seiner Stücke hört: Eine Haptik, eine Präsenz, eine Verbundenheit. 

Don Cherry machte Anti-Entfremdungsmusik. Er starb 1995 in Haus seiner Stieftochter Neneh Cherry, in der Nähe von Málaga.

Text: Philipp Kunze, Foto: Mario Biondi