
Der Pianist Christian Sands, noch keine 30, ist international bekannt geworden durch seine mehrjährige Mitwirkung im Christian McBride Trio. Er ist aber nicht nur im Straight Ahead-Jazz zu Hause, sondern spielt auch gern moderner, etwa mit Bassist Ben Williams. Das vorliegende Album mit acht Eigenkompositionen und dem Beatles-Song »Yesterday« demonstriert seine Bandbreite. Das beginnt in »Rebel Music« mit swingenden Läufen über dem unruhigen Rhythmus von Schlagzeuger Jerome Jennings. Bassist Yasushi Nakamura leitet »Fight for Freedom« ein, bevor einige Gäste einsteigen. Gitarrist Caio Afiune sorgt für etwas Funkiness, Trompeter Keyon Harrold und Saxofonist Marcus Strickland bringen Hardbop-Elemente ein, Sands wechselt zwischen Klavier und Fender Rhodes. Die Perkussionisten Roberto Quintero und Christian Rivera machen aus »Sangueo Soul« eine schnelle Latin-Nummer mit Steel Drums und atemberaubenden Läufen von Sands. »Sunday Mornings« bringt Gospel Feeling mit Sands an Hammond, Klavier und Fender Rhodes. Leicht brasilianisch wird es mit »Samba de Vela«. Nach fast einstündiger virtuoser Tour de Force durch alle diese verschiedenen Musikrichtungen und Stile schließt die CD mit »Rhodes to Meditation« mit Sands solo am Fender Rhodes meditativ entrückt – aber dieser Fremdkörper verschafft dem atemlosen Zuhörer eine willkommene Ruhepause vor dem erneuten Anhören der Scheibe.
Text: Hans-Bernd Kittlaus

Als Pianist und Komponist Frank Kimbrough im Dezember 2020 überraschend mit 64 Jahren an einem Herzinfarkt verstarb, empfanden das viele Musiker*innen als großen Verlust für die New Yorker Jazz Szene. Er war nie in der Liga der großen Stars, aber hatte eine wichtige Rolle als langjähriges Mitglied des Maria Schneider Orchestra, als Lehrer an der Juilliard School of Music und als Leiter seiner eigenen Bands. So taten sich im Mai 2021 67 Musiker*nnen zusammen und spielten ein Tribute-Projekt mit 61 seiner Kompositionen ein (»Kimbrough«, Newvelle Records, nur Download). Nun legt Sunnyside posthum Kimbroughs Aufnahme von 2017 im Trio mit dem Kornettisten Kirk Knuffke, sonst oft im Avantgarde-Bereich tätig, und dem Bassisten Masa Kamaguchi vor. Die elf Kompositionen, davon neun Eigenkompositionen Kimbroughs, sind von berührender melodischer Schönheit. In »Waiting in Santander« improvisiert Knuffke melodisch über Kimbroughs rollenden Klavierläufen und Kamaguchis wohlgesetzten Basstönen. In »Air« gibt Knuffke seinen Tönen sphärischen Charakter. Die 71 Minuten Spielzeit durchzieht eine wohlige Schwermut. Am Ende steht »All these Years« von Maryanne de Prophetis, Kimbroughs Lebensgefährtin. Mit diesem Album hat Kimbrough sein eigenes Requiem eingespielt.
Text: Hans-Bernd Kittlaus

Gleich mit dem ersten Titel »Orange Coals« lässt das Quartett keinen Zweifel an der Ausrichtung des Albums – Straight Ahead Jazz mit unbändigem Swing. West Coast Gitarrist Graham Dechter hat sich dazu Mitmusiker aus dem Clayton-Hamilton Jazz Orchestra eingeladen, dessen langjähriges Mitglied der Mittdreißiger ist. Schlagzeuger Jeff Hamilton treibt die Band heftig an, kann aber auch mit höchster Eleganz und Musikalität die Besen einsetzen wie in »Reference« und »Moonithology«. Bassist John Clayton und Pianist Tamir Hendelman beginnen »Bent on Monk« unisono, bevor Dechter getragen von Claytons walking bass zu einem brillanten Solo ansetzt. Hendelman und Clayton solieren souverän über Hamiltons Besenarbeit, die in sein eigenes Solo mündet, das er wie ein Tänzer gestaltet. »Major Influence« besticht mit eingängiger Melodie und dezentem Swing bei mittlerem Tempo. Dechters Gitarrenspiel ist beeinflusst von Wes Montgomery und Herb Ellis, aber er hat seinen eigenen Stil gefunden verbunden mit gutem Geschmack, was sich auch in seinen sieben Kompositionen zeigt. Am Ende swingt »Billy’s Dilemma« mit höllischem Tempo, das Dechter zu einem weiteren atemberaubenden Solo inspiriert – unwiderstehlich!
Text: Hans-Bernd Kittlaus

Der polnische Bassist Wojtek Mazolewski brachte seine Musik zunächst in Polen heraus, bevor sie auf Michael Janischs Londoner Whirlwind Label international verfügbar wurde. Die Band spielt 13 überwiegend nach Städten benannte Stücke, die meisten Eigenkompositionen von Mazolewski, die sich durch eingängige Melodien auszeichnen. Ebenso ansprechend sind auch die Arrangements, die genau die richtige Balance treffen zwischen durchkomponierten melodiösen Teilen und improvisatorischem Freiraum, zwischen Eingängigkeit und Ecken und Kanten bis hin zu Free Jazz-Elementen. Der Titelsong »Polka« ist ein gutes Beispiel. Er beginnt mit in die Beine gehendem Rhythmus, der sich durch das gesamte Stück zieht. Dann setzt ein Bläsersatz mit einem Riff ein, bevor Pianistin Joanna Duda ein melodisch und rhythmisch wohlstrukturiertes Solo spielt und Tenorsaxofonist Marek Pospieszalski kurz à la Michael Brecker soliert. »Berlin« startet mit einem an Techno angelehnten Rhythmus, der dann einen afrikanischen Touch bekommt mit kurzen Einwürfen der Bläser. Die CD endet mit „Theme de Yoyo“, einem Stück des Art Ensemble of Chicago, das mit einem fast zu glatten Bläserarrangement beginnt, das aber ganz schnell und immer wieder mit freien Tönen durchbrochen wird. Mazolewski legt einen groovenden Bass darunter, und alle Band Mitglieder erhalten Gelegenheiten zu Solos. Wojtek Mazolewski schafft es mit dieser CD, anspruchsvolle Musik in einer Weise darzubieten, die auch für Zuhörer, die keine Hardcore-Jazz-Fans sind, gut anzuhören ist.
Text: Hans-Bernd Kittlaus

In den Liner Notes sinniert Mark Lockheart über seine Lebenszeit, 20.711 Tage zum Zeitpunkt der Aufnahme im Dezember 2017. Diese Tage hat er offenbar gut genutzt, denn mit »Days On Earth« ist ihm ein Meisterwerk gelungen, ein Opus Magnum in sieben Stücken, aufgeführt von einem Jazz-Sextett und einem 30-köpfigen Orchester mit Streichern, Harfe und Bläsern. Die Kompositionen sind für das Orchester komplett ausgeschrieben, die Arrangements lassen dem Sextett und seinen Solisten aber Raum zur Improvisation. Das Ergebnis ist eine zeitgemäße Verbindung von symphonischer Neuer Musik und Modern Jazz mit punktuellen Pop-Einflüssen, die man in dieser Qualität und überzeugenden Integration seit Gunter Schuller’s Third Stream Experimenten in den 1950er Jahren selten gehört hat. Neben seiner langjährigen Mitwirkung in britischen Bands wie Loose Tubes oder Polar Bear hat Tenorsaxofonist Lockheart auch vielfältige Erfahrungen in der Kombination von Jazz und Klassik, die sich in Days On Earth auszahlen. Die Musik bleibt über die gesamte Laufzeit von 50 Minuten hochspannend und belohnt mehrmaliges Anhören mit immer neuen Entdeckungen.
Text: Hans-Bernd Kittlaus

Der New Yorker Chris Potter zählt schon seit 25 Jahren zu den führenden Saxofonisten im Jazz. In dieser Zeit hat er mit einem Who is Who der Jazzszene gespielt und unter eigenem Namen ein weites stilistisches Spektrum von Straight Ahead bis Avantgarde und Elektronik abgedeckt. Nach mehreren Jahren bei ECM liegt hier seine erstes Album auf dem englischen Edition Records Label vor – und es erweist sich als Meisterwerk von unbändiger Kraft und musikalischer Kreativität. An seiner Seite steht Schlagzeug-Virtuose Eric Harland, der Potter den jungen Keyboarder James Francies empfahl, der wie Harland aus Houston kommt und erst im Herbst 2018 sein Debüt auf Blue Note vorlegte. Potter beginnt »Invocation« mit schönem Bassklarinetten-Sound fast wie einen englischen Choral. Francies lässt sein Keyboard wie eine Orgel klingen. Doch mit »Hold it« wird es dann funky und groovy mit eingängiger Melodie vom Tenorsaxofon, hartem Rhythmus von Harland und einer Unterlage aus tiefen Tönen und elektronischen Effekten von Francies. »Koutomé« beginnt Potter wieder an der Bassklarinette ganz melodiös, bevor afrikanische Elemente von Harland ins Spiel gebracht werden und Potter ausdrucksstark am Tenorsaxofon soliert. Der Titelsong »Circuits« bringt kraftvolles Tenorsaxofon, aber auch groovendes Powerplay von Harland, sehr vielfältige elektronische Sounds von Francies und rhythmischen E-Bass von Gast Linley Marthe. »Queens of Brooklyn« lässt den Zuhörer mit Potters schönem Sound am Sopran kurz zur Ruhe kommen. Dann geht mit Potters »Exclamation« und Francies’ »Pressed for Time« nochmal die Post ab. Harlands rhythmisches Feuerwerk inspiriert auch Potter und Francies zu äußerster Funkyness. Eindrucksvoll!
Text: Hans-Bernd Kittlaus

Enzirado ist ein Wortspiel mit den Vornamen der drei Band-Mitglieder. Es klingt fröhlich, spannend und eun wenig lateinamerikanisch – also wie die Musik auf diesem Album des italienischen Abeat Labels. Pianist Dado Moroni zählt seit Jahrzehnten zu den herausragenden europäischen Straight Ahead-Pianisten. Gemeinsam mit Basslegende Ira Coleman und dem im deutschsprachigen Raum weniger bekannten Schlagzeuger Enzo Zirilli erinnert er daran, wieviel Möglichkeiten noch immer im guten alten Klaviertrio stecken. Der überwiegende Teil der neun Stücke stammt von Moroni, so auch der Titelsong, der elegante Melodieführung mit rhythmischer Finesse verbindet. Moroni brilliert mit inspirierten Läufen, Coleman findet genau die richtigen Töne und Zirilli sorgt für den richtigen Swing, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu spielen. Gershwins »Isn’t it a pity« wird nah an der Komposition interpretiert, Moronis »Black Forest Blues« beginnt verhalten am Rhodes, bevor die Band in den rechten Groove kommt. Das Album endet mit Tom McIntoshs Quasi-Standard »The cup bearers« höchst swingend. Diese Musik ist auf angenehme Weise altmodisch, hat Stil und macht Spaß.
Text: Hans-Bernd Kittlaus

Omer Klein zählt zu den herausragenden in Deutschland lebenden Pianisten. Der gebürtige Israeli legt mit »Radio Mediteran« sein achtes Album vor, das zweite beim Warner Music Label. Er setzt seinen mit der Vorgänger-CD »Sleepwalkers« angedeuteten Weg fort, anspruchsvollen Jazz mit eingängigen Sounds und Rhythmen aus dem Pop- und Rock-Bereich zu verbinden. Der Reigen von neun Eigenkompositionen beginnt mit »Our Sea«, geprägt von einer kurzen melodischen Sequenz mit Ohrwurmqualität, die Klein als Ausgangspunkt für einen solistischen Ausflug über dem rockigen Rhythmus von Bassist Haggai Milo-Cohen und Schlagzeuger Amir Bressler nutzt. Am Ende legt Klein eine schwere Synthesizer-Wolke darüber. Besonders gelungen ist das Titelstück, in dem sich das Trio geradezu in einen Hochgeschwindigkeitsrausch spielt. Während »Sofia Baby« und »Desert Trip« näher am Sound des klassischen akustischen Klaviertrios liegen, wird »Solois« rockiger mit elektronischen Elementen. Trotz dieser stilistischen Wechsel wirkt das Album wie aus einem Guss und zeigt ein bestens eingespieltes Trio, das den Jazz Fan ebenso ansprechen will wie ein jüngeres von der Pop-Musik kommendes Publikum.
Text: Hans-Bernd Kittlaus

Tenorsaxofon-Legende Ernie Watts gelingt mit »Home Light« erneut eine exzellente Einspielung, nachdem schon der Vorgänger »Wheel Of Time« bestens gefiel. Das Programm besteht aus neun Stücken, überwiegend Eigenkompositionen der beteiligten Musiker, aufgenommen im Dezember 2017 in Köln mit seiner langjährigen europäischen Band. Es beginnt mit Watts‘ »I Forgot August« in zügigem Tempo mit ausdrucksstarkem Solo des Saxofonisten. Auch Pianist Christoph Sänger soliert inspiriert, Rudi Engel lässt seinen Bass rhythmisch laufen, und Schlagzeuger Heinrich Köberling treibt die Musik voran und ist jederzeit präsent, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Seine Komposition »Cafe Central 2 am« nutzt Watts zu einem langen Solo mit anhaltender Glut. Die CD endet besonders emotional mit dem Titelsong, der Watts‘ Freund, dem verstorbenen Schlagzeuger Ndugu Chancler gewidmet ist. Es ist eine Freude, diese so gut eingespielte Band zu hören mit einem Ernie Watts, der mit 73 besser denn je klingt. Straight Ahead Jazz vom Feinsten!
Text: Hans-Bernd Kittlaus

Er ist 22 und studiert Jazz-Trompete an der Musikhochschule Köln – klingt normal. Er ist gleichzeitig Mitglied im Landesjugendjazzorchester Hessen und im BuJazzO – klingt nicht mehr ganz so normal. Er leitet seine eigene Big Band, legt dieses Album vor und hat für Christian Lillinger, Peter Brötzmann und Evan Parker jeweils mehrteilige Suiten geschrieben und mit ihnen in Big Band Konzerten in diesem Jahr mit großem Erfolg live aufgeführt – klingt gar nicht normal. Die sechs Eigenkompositionen des Albums, aufgenommen im April 2018, liefern abwechslungsreiche Grundlagen für Klewers Arrangements, in denen er virtuos mit Dynamikwechseln, Mehrstimmigkeit und den Klangfarben der Big Band spielt. Solistisch stechen Trompeter Ferdinand Schwarz mit melodischem Solo in »The Oceanside«, Tenorsaxofonist Victor Fox mit schönem Ton in »6th Degree« und Posaunist Philipp Schittek mit kreativer Improvisation über »When We First Met« hervor. Klewer spielt selbst nicht mit, sondern beschränkt sich aufs Dirigat. Die CD endet melancholisch mit »Zu früh«, einem Stück, das Klewer einem verstorbenen Jugendfreund widmet. Für Pascal Klewer selbst wirkt das bisher Erreichte keineswegs »zu früh« und macht gespannt auf seine nächsten Schritte.
Text: Hans-Bernd Kittlaus