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Etwas verlernen und etwas Neues daraus machen

Am 14. Oktober spielt Otis Mensah aus Sheffield in der Reihe Heavy Feelings. Der Support kommt von der Kölner Musikerin Ray Lozano. 

Sheffield ist weit weg davon, der beste Advokat seiner selbst zu sein. Während bei Städten wie Manchester, Liverpool, aber auch Birmingham und Bristol keine sonderlich großen Fragezeichen aufpoppen, hält sich die Stadt in Yorkshire stets im Hintergrund auf. Es wissen womöglich mehr Menschen, dass sich der örtliche Fußballverein den Namen mit einer erfolgreichen Netflix-Serie teilt, als dass sie Bands und Labels der Stadt aufzählen können.
Dabei kann die Halbmillion-Stadt im Windschatten von Manchester auf eine wechselhafte und innovative Musikgeschichte zurückschauen: Da sind die Achtziger mit The Human League und ABC, die Brit-Popper von Pulp oder natürlich das epochenmachende Electronica-Label Warp, das von hier aus die Entwicklung der elektronischen Musik maßgeblich beeinflusste.
Nicht unerwähnt bleiben soll Gitarrist Derek Bailey, der große Free-Jazz- und Improv-Impresario, dessen Label Incus (mit dem Saxofonisten Evan Parker und dem Drummer Tony Oxley) das englische Pendant zum deutschen FMP-Label von Peter Brötzmann darstellte.

In dieser Tradition des „Geschickt im Windschatten-Auftauchens“ stellt sich – womöglich ganz unwillkürlich – der stolze Sheffielder Otis Mensah. »Der englische Norden gibt mir den Platz zu reflektieren«, erzählt er im Interview mit dem New Wave Magazine. Allergisch gegenüber Überstimulation und einem fehlenden Gefühl von familiärer Umgebung, nutzt der 1995 geborene Mensah die leicht zurückgelehnte Atmosphäre. Das Ergebnis: Der Sohn eines DJs und einer Lyrikerin findet die Zeit seine Kunst, den sogenannten Lyricsm, zu perfektionieren. 
Nicht wenige sehen in Mensah die große Hoffnung der englischen Lyrik, die anerkannt näher an der Musikszene entlang operiert. So changiert auch er, wie etwa der Musiker und Literat Kae Tempest oder Coby Sey, zwischen Spoken Word und Rap; lässt manchmal den Klang der Instrumentals, dann wieder seine eigenen Worte in den Vordergrund springen, gleiten oder fliegen.
Dieser Zwiespalt, den Otis Mensah heute sehr produktiv einzusetzen weiß, entsteht in seinen Teenager-Jahren, als er, wie er einst in einem Interview verriet, keine Repräsentanz im literarischen Kanon fand, keinen Zugriff zu Texten hatte, die ihn interessierten oder forderten – zwangsläufig wandte er sich Hip-Hop zu. Statt des englischen Grime-Sounds untersuchte Mensah die Verse von Kid Cudi, Common oder auch Childish Gambino, fand im amerikanischen Conscious-Rap ein Zuhause. Das ergibt aus heutiger Hinsicht sehr viel Sinn, beruft sich etwa der Oscarpreisträger Common auf die Spoken Words-Kunst der sogenannten Last Poets aus Harlem, die wiederum als erste Jazz, Beat-Literatur, assoziative und politische Texte mixten, verbanden und zu einer neuen Musik formten.
Wie einer der Last Poets sprechgesangt auch Mensah heute seine Reflexionen über Männlichkeit in einer Welt, die an ihren patriarchalen Mustern immer häufiger zu scheitern droht; über Geschlechterbinarität; über Rassismus, mental health, struktuelle Gewalt und vieles mehr.
Beats kommen derweil aus Berlin, vom dortigen Boom Bap-Produzenten The Intern – die Instrumental-Spuren geben Mensah den Platz sich auszudrücken, fordern mit ihren geschickten Beat-Settings aber auch mal eine Jazz-hafte Re-Rhythmisierungen.


»Für mich sind Verse wie die Soli von Saxofonisten und Trompetern«, erklärt er und führt weiter aus, »bei Hip-Hop steckt Jazz in allen Ecken und Kanten; das hat mir ermöglicht eingefahrene Strukturen und Formen in einer Jazz-haften Art zu verlernen und etwas neues zu machen.« Als Jugendlicher habe er einst die Posaune gelernt und sei dem Jazz bis heute stets verbunden geblieben.
Wenn Mensah am 14.10. im King Georg auftritt, findet er also den perfekten Ort – und im Zuge der Heavy Feelings-Reihe auch die optimale Repräsentation.
Immerhin kommt der Support an diesem Abend von der Kölner Musikerin Ray Lozano, selbst eine klassisch ausgebildete Musikerin, die über die Jahre ihren Weg gefunden hat und bisweilen ähnliche Antworten gefunden hat. Auch bei Ray Lozano sind die Instrumentals, die sie selbst zu Hause am PC produziert, vom Jazz geschult – und bieten ihrem Songwriting die optimale Basis um das „Pop-Lied“ zu dekonstruieren und in innovative Ecken zu bringen.

Text: Lars Fleischmann