Niemals wehmütig
Über 50 Jahre Bandgeschichte, ein halbes Jahrhundert Genre-sprengender Jazz. Es lohnt sich immer, in das Werk des Art Ensemble of Chicago reinzuhören.
Sich über Lieblingsplatten zu streiten ist ein mühseliges, dennoch durchaus beliebtes Hobby. Wo zwei oder drei unter einem Namen – ob beispielsweise Beatles, Miles Davis oder Coltrane – zusammen kommen, da wird auch gestritten. Im Falle einer der wichtigsten Combos der Jazzgeschichte wird das Unterfangen gleichsam zur Belastungsprobe: Das Art Ensemble of Chicago blickt auf mindestens 50 LPs zurück – und wer weiß wie viele ungesichtete Aufnahmen noch in Kellern alter Jazzclubs warten. Betrachten wir also kurz Blick auf die Geschichte des Ensembles. Während andere Karriere Hochs und Tiefs durchziehen, müssen dabei für das Art Ensemble of Chicago andere Maßstäbe angelegt werden. Seit 1965 musiziert man unter diesem Namen in gewohnter Regelmäßigkeit; neumodische Begriffe wie »Projekt« laufen dennoch ins Leere. Die Band ist immer eine Band geblieben. Es waren aber auch stürmische Zeiten, als sich die Ursprungsformation fand.
In der »Windy City« braut sich was zusammen
In der »Windy City« am Lake Michigan brodelte es schon länger: In Detroit buchte man mit Motown Charts-Plätze en masse, in New York versammelte sich die Elite des Jazz, um sowohl den Hard-Bop als auch den gerade brachial einschlagenden Free-Jazz zu perfektionieren. Und in Chicago … passierte vor allen Dingen für die afro-amerikanischen Musiker*innen nicht viel. Aushängeschild war Chess Records – und dieses Label wartete bereits seit zehn Jahren auf eine Nummer, die mehr als eine Million Platten verkaufen konnte. Das sollte sich schlagartig ändern, als die 25-jährige Sängerin Fontella Bass mit »Rescue Me« einen der besten R&B-/Soul-Songs aller bisherigen Zeiten herausbrachte. Fontella Bass war außerordentlich begabt; nicht bloß Stimmband, sondern eine stolze und schlaue Künstlerin. »Barry Gordy-hafte« Geschäfte waren mit ihr nicht zu machen. Viel mehr interessierte sich die Sängerin neben der eigenen Karriere noch für die »Clique«, in der sich ihr Mann Lester Bowie aufhielt. Dieser war gerade Teil des Association for the Advancement of Creative Musicians (kurz AACM) geworden: Ein loser, aber äußerst produktiver Zusammenschluss von Chicagoer Künstler*innen. Ein Kollektiv, ein Interessenverband, ein Nährboden, auf dem schon bald die ersten Blüten sichtbar werden sollten. Clubs und Bars schlossen sich zusammen, Künstler tauschten sich aus, eine Community entstand. Phil Cohran und Maurice McIntyre waren nur zwei von vielen Beteiligten.
Um den umtriebigen Holzbläser Roscoe Mitchell formierte sich nun ein Sextett, das neben ihm und Lester Bowie, aus Joseph Jarman, Malachi Favors und Phillip Wilson bestand. Im Mittelpunkt stand die Frage, was Jazz überhaupt leisten könne. Zwar lehnte man den Free-Jazz nicht ab, doch krempelte das Sextett, das 1968 zum Art Ensemble of Chicago wurde, ihn einfach um. Es verband die freie Spielart mit kompositorischen Kniffen, bediente sich sowohl bei der Neuen Musik eines Arnold Schönberg und den künstlerischen Stücken eines John Cage als auch bei den Vorgängern des Jazz bis hin zu den Roots, die auf den Feldern der Südstaaten als auch in der afrikanischen Herkunftsländer der Ahnen lagen. Ein Meisterwerk der an Meisterwerken nicht armen Diskografie ist der Soundtrack »Les Stances a Sophie« zum gleichnamigen Film von 1970. Die Band hatte es ab 1969 nach Europa und im Speziellen nach Frankreich verschlagen. Das Instrumentarium – genauso wie Bühnenoutfits, Melodik und Rhythmik – war derweil eindeutig vom afrikanischen Kontinent beeinflusst.
Die Staaten waren zu klein geworden für das Ensemble, das sich mit berauschender Geschwindigkeit weiterentwickelte. Über 33 Minuten spielt sich die Band auf der Platte in einen wohlgepflegten Rausch. Schon der Opener »Theme de Yoyo« zeigt die Wucht einer Band, die sich nicht etwa auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt, sondern gegenteilig agiert. Die Eigenheiten des Spiels werden gepflegt, konzentriert und kultiviert. Hier hört man – wie auf so vielen Aufnahmen bis weit in die 1990er Jahre hinein – eine Formation, die jede Grenze zu sprengen vermag. Afrikanisch-pentatonische Bläsersätze wechseln sich ab mit Neo-Dixie-Sounds, Free-Form und Bop – und dazu singt eben Fontella Bass, die während des selbstgewählten Exils in Europa Teil der Band wurde. Doch der Blick zurück ist nie ein wehmütiger. Kurz vor dem Ende der Platte ertönt für drei Takte eine Reminiszenz auf »Summernight« aus »Porgy & Bess«. Nicht nur die erste US-amerikanische, sondern auch – gleichwohl von einem amerikanischen Juden geschriebene – eine durch und durch afroamerikanische Oper.
Eine Monografie reicht nicht aus
Verortet, wenn das Art Ensemble of Chicago nicht sogar das Genre mitbegründet hat, wird das alles im Avantgarde-Jazz. Gleichzeitig war nie es wirklich das Ziel, eine Avantgarde zu formieren. Die Grenzen des Jazz wurden vielfach gesprengt und weiterentwickelt, doch das folkloristisch-musikalische Erbe war im gleichen Maße Aufhänger für die stetige Evolution des Sounds. »Message to our Folks« nannte Paul Steinbeck seine mittlerweile fast zehn Jahre alte Monografie zum Art Ensemble of Chicago. Ein grandioses Buch, das dennoch – bei über 300 Seiten Umfang – kaum in der Lage ist das gesamte Werk einzuordnen. Einige Verbindungen sind jedoch offensichtlich: Idris Ackamor und The Pyramids sind unmittelbar beeinflusst wurden, Sun Ra wahrscheinlich mittelbar.
Angesichts von über 50 Jahren Bandgeschichte sind einige Wechsel und auch schmerzhafte Verluste zu beklagen. Aus der Stammformation ist nur noch Roscoe Mitchell übrig. Lester Bowie starb 1999, Malachi Favors 2004. Don Moye sitzt derweil auch schon seit fünf Dekaden am Schlagzeug. Gerade im Mainstream wird das Art Ensemble of Chicago gerne übersehen, doch für Jazzfans lohnt es sich immer, reinzuhören in die faszinierende Diskografie
Text: Lars Fleischmann, Foto: Tore Sætre/ Wikimedia