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Free Jazz decodiert

Das Code Quartet bezieht sich auf die Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit des Free Jazz. Dabei swingt es, dass einem das Herz aufgeht. Am 28.4. spielt es im King Georg – als Trio.

Code Quartet

Ornette Coleman erzählte einst die Geschichte, wie er seiner Mutter als Kind Saxofon vorspielen wollte, doch statt großem Interesse, erntete er bloß diese eine Lektion fürs Leben: »Junior, ich weiß, wer du bist.«

Coleman war ein Musiker, der wusste, dass man über gespielte (und auch ungespielte) Töne sein Innerstes offenbaren konnte. Und selbst er, der Musik revolutionierte und mit seiner Version des Free Jazz Türen und Toren für das Zerebrale als (post-)modernes Element des Jazz implantierte, war ein Gefühlsmensch. Vielleicht einer der größten der langen Tradition des Jazz.

Nun könnte man den Vergleich mit Coleman fürchten – oder ganz aktiv suchen. Christine Jensen aus Montreal ging vor einigen Jahren in die Offensive und suchte drei Mitstreiter, um eine der legendärsten Kombos der Geschichte wiederzubeleben. Um genauer zu sein, handelt es sich beim Code Quartet um eine Re-Inkarnation. Der Geist von Coleman, von Don Cherry, von Charlie Haden am Bass und Billy Higgins an den Drums: Sie alle haben neue Gefäße gefunden.

Belebender als eine Kanne Kaffee

Es ist nicht so, dass man das direkt hört, wenn man sich das letztjährige Album »Genealogy« des Quartetts anhört, das außer Jensen eben aus Jim Doxas (drums), Adrian Vedady (bass) und dem Trompeter Lex French besteht. Zumindest erschließt es sich nicht unmittelbar. Das Code Quartet kommt im Zweifel ohne die großen, eindeutigen Gesten aus. Man muss eben nicht sofort in die Vollen gehen, um zu beweisen, dass man Free Jazz spielen kann, will und wird. Nein, wohlfeile Befindlichkeitsbefriedigung sucht man vergebens. »Tipsy«, der Opener, ist deswegen ein swingender und lockerer Blue-Note-Jazz, Mitte 1950er ungefähr, mit einer Vorliebe für die populären Tanzmuster. Angetrieben wird die Maschine von Doxas, der hier so saftig swingt, dass moderne computergersteuerte Notationsverfahren womöglich ordentlich ins Schwitzen kommen. Aber auch der Rest der Band hat den Swing im Blut – Lebendigkeit, ick hör’ dir trapsen. Belebender als eine Kanne Kaffee.

Der Titeltrack »Genealogy«, geschrieben von Trompeter French – ja, man teilt sich hier die Komposition auf -, lässt es dann erstmals krachen. Flott geht man rein, im neuerdings Fußball-verrückten Kanada würde man wohl »Kick and Rush« dazu sagen. Der Ball segelt also mit einer kurzen Drum-Improvisation in den Strafraum, und ab hier nimmt das durchaus kontrollierte Chaos seinen Lauf. Jeder darf mal, es wird aus vollen Rohren draufgehalten – nach zwei Minuten hüpfen dann Drums, Bass und French an der Trompete in eine andere Zeitrechnung. Helle Freude! Biblische Verhältnisse! Tohuwabohu!

Nach Hause kommt man trotzdem immer wieder. Es wird eine feines Florett geschwungen – langsam, schneller, verrückt und konzentriert. Als wäre es zu dem Zeitpunkt nicht genug des Einfallsreichtums, wendet man sich sogleich dem Puritaner-Traditional »O Sacred Head, Now Wounded« zu, das bis heute in methodistischen und baptistischen Gemeinden in Nordamerika angestimmt wird. 

Was das alles exemplarisch zeigt: Berechnbarkeit ist nicht das Ding des Code Quartets, keineswegs. Dementsprechend verwundert es kaum, dass es im King Georg zu einer auf den ersten Blick doch seltsam anmutenden Verkleinerung kommt. Das Quartett kommt zu dritt – das Saxofon passt aus Gesundheitsgründen. Was wie ein Schönheitsfehler wirkt, ist tatsächlich keiner. Free Jazz wird nur sehr ernst genommen in seiner Befreiungsbewegung, das Kollektiv steht im Mittelpunkt – gleiche Rechte für alle. Was wie ein Coleman-Slogan wirkt, ist dennoch nicht ganz so plakativ und billig: Wer sich befreien möchte, der löst sich vom Gedanken der Front- und der Sidemusicians, dem Diktum des Besitzanspruches auf Ideen und Songs, auf die modale Variabilität der Parts. Code Quartet (als Trio) heißt folglich: Free Jazz de-codiert.

Text: Lars Fleischmann