Kinder ihrer hochbrisanten Zeit
Ein ganz besonderes Jazz-Duo: Moses Boyd und Binker Golding aka Binker & Moses geht es nicht um einen Bruch mit der englischen Jazz-Tradition, sondern um eine musikalische Evolution. Eine Modernisierung des Sounds.
Es kann einem ein wenig schwindelig werden, wenn man auf die Londoner Jazz-Szene schaut. Wie viele Platten, und wie viele herausragende darunter, in den letzten sieben Jahren dort entstanden sind und veröffentlicht wurden? Was besonders auffällt: Der Strom an hypertalentierten Musiker*innen flaut gar nicht ab. Den Drummer Moses Boyd darf man, nein, muss man dennoch herausheben. Der 31-jährige Londoner, der erst als Teenager mit dem Schlagzeug-Spiel begann, hat längst einen Großteil der gleichaltrigen Musiker*innen hinter sich gelassen. Trotz seines vergleichsweise jungen Alters kann er schon unzählige Awards sein Eigen nennen – vom renommierten MOBO (Music Of Black Origin) bis zum Jazz-Preis des House of Parliament des United Kingdoms ist alles dabei, was man so abstauben kann. Die eine Hälfte davon hat er alleine beziehungsweise als Bandleader des Moses Boyd Exodus gewonnen; die andere in einem ganz besonderen Duett: Binker & Moses.
Das neue Album »Feeding The Machine«
Da heißt sein Pendant Binker Golding. Boyd und der sechs Jahre ältere Golding lernten sich als Teil der Tomorrow’s Warriors des britischen Bassisten Gary Crosby kennen und lieben. Sie verbindet zum Beispiel das offene Auge und Gehör für Jazz-fremde Musik. Während Boyd seit jeher und bis heute ein großer Liebhaber von (englischem) Rap, Drill und Grime ist, war die erste (musikalische) Liebe des Saxofonisten die Rock-Band Guns’n’Roses. Dieses rockige Moment hat er bis heute bewahrt, immer wieder sticht es in seinen Parts durch, seine Riffs gleiten dann vom Holzbläser scheinbar über zur elektrisch-verstärkten Gitarre und ihren Effekten. Dieses wütende, grobe Geschrammel nutzt Golding indes nur selten, wenngleich sein gesamtes Spiel robust daherkommt. Dass er es auch anders kann, das beweist er exemplarisch auf dem neuen Album »Feeding The Machine«.
Hier tobt sich Golding aus, sein Saxofon läuft meist durch Echo-Effekte, was dem ganzen Spektakel ein nebulöses-dunstiges Antlitz verleiht. Er nutzt diese Nebelwände dann, um die spirituellen und musikalischen Seelen seiner Vorgänger zu erwecken. John Coltrane blickt aus dem Jenseits herüber, Sonny Rollins’ Bass grüßt aus dem Diesseits, Albert Aylers Gewalt aus dem Nirwana – alles, wie bereits erwähnt, robust. Doch auch feingliedrig kann er, der Golding. Dann mimt er den eigentlich unvergleichlichen Evan Parker; die Parts gleichen naturbezogenen, impressionistischen Gemälden. Verwoben wird alles durch das aktive, dynamische Spiel von Moses Boyd; neben den Beats des Hip-Hop und den Riddims der afro-karibischen Musik spielt Boyd seine Felle und Bleche fast schon romantisch, immer auf der Suche nach dem richtigen Klang. Fürsorgliche Wirbel, knisternde Crashes, zündelnde Ideen.
Tiefe Kenntnisse der Jazz-Vergangenheit
Boyd und Golding geht es nicht um einen Bruch mit der englischen Jazz-Tradition, sondern um eine Evolution, um eine Modernisierung des Sounds; man nennt das im Englischen auch gerne »genre-bending«. Hier soll die prozessuale Kunst der Improvisation – das Duo ist in einem viskosen Semi-Free-Jazz zu Hause – und der Jazz-Komposition kurzgeschlossen werden mit der musikalischen Vielfalt des postkolonialen Londons. Es geht um ein Abbild des Reichtums an Einflüssen, mit denen man heutzutage aufwächst. Sie untersuchen die verschiedenen Musikszenen Londons (Cafe Oto-Avantgarde, afrokaribische Spielarten, Dub, aber auch Afro-Beat und Rock) und verleiben sie sich allesamt ein. Binker & Moses sind eine Bestandsaufnahme des Szene-Reichtums der Hauptstadt – Szenen, die ehedem getrennt voneinander agierten und durch die »Londonisierung« der Musikszene (Schließungen von Clubs und Konzertorten, keine Selbstverwaltung etc.) langsam aber sicher zusammenrücken mussten, um die wenigen Orte gemeinsam zu bespielen.
Das Fundament ist stets Jazz, die beiden sind hochgeschult und haben tiefe Kenntnisse der jazzologischen Vergangenheit. Unterdessen bleiben sie Kinder ihrer Zeit – was ihre Musik, wie zuletzt auf »Feeding The Machine« so hochbrisant macht. Wie kaum ein anderes zeitgenössisches Duo wissen Binker & Golding zu begeistern, umzuhauen, mitzureißen. Es ist eine Musik, die selbst in einer Stadt wie London meilenweit vor den Alben aller anderen zu stehen scheint. Schlicht und ergreifend die aufregendste Musik der letzten Jahre.
Text: Lars Fleischmann