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Devin Brahja Waldman leitet die Band BRAHJA, die am Freitag, 10.11. im Rahmen unserer Urban Jazz Experience spielt.

Man stelle sich das mal vor: Man hat bereits mit zehn Jahren begonnen zu Touren, damals als Begleitung der eigenen Tante, die eine bekannte Poetin ist (Anna Waldman), und in den Folgejahren mit der Punk-Ikone Patti Smith, dem Künstler und Can-Musiker Malcolm Mooney und Sonic Youths Thurston Moore gespielt; man sei ganz nebenher ein Weltenbürger, der munter zwischen New York und Montreal, zwischen Nordamerika und Europa hin- und herspringen könne; man mache sowohl bei den Postrockern von Godspeed! You Black Emperor, als auch neben dem ägyptischen Fusionmusiker Maurice Louca eine gute Figur – man müsste doch fast unter diesem fast unmenschlichem »Plus an allem« zerbröseln. Doch die Welt von Devin Brahja Waldman, diesem famosen und übertalentiertem (ein Begriff, den man nicht leichtfertig benutzen sollte) Saxofonisten, Schlagzeuger, Synthesizer-/Pianisten und Komponisten, sieht anders aus. Sie bröselt nicht, sie splittert auch nicht, sie wirft nicht einmal Falten. Stattdessen entwirrt sich in den Händen des New Yorkers sogar der Gordische Knoten.

Devin Brahja Waldman leitet die Band BRAHJA. BRAHJA spielt in der einen oder anderen Form seit 2008 und besteht derzeit aus 10 Musikern aus Montreal, New York City, Washington D.C. und Chicago; der Kern besteht aus Waldman, Isis Giraldo (Klavier, Synthesizer, Gesang), Damon Shadrach Hankoff (Orgel, Klavier, Synthesizer), Martin Heslop (akustischer Bass) und Daniel Gélinas (Schlagzeug, Synthesizer).
Die Loipen in die verschiedenen nordamerikanischen Zentren des Jazz, der freien Musik, der Improvisation und des Experiments sind folglich längst gefräst und Waldman könnte sich bereits zurücklehnen. Mal hier connecten, dann wieder woanders andocken – Erfolg wäre ihm garantiert. Wer aber unterdessen in sein 2019er Debütalbum reingehört hat und das Vergnügen hatte, diese innovative, dichte, superelastische Musik zu genießen, der kann bestätigen: Sowas hat man noch nicht gehört. Man wusste sogar bisher gar nicht, dass man nach diesem alchemistischen Mix, nach dieser eigensinnigen, kompakten Musik mit ihren Post-Punk-Ostinati im Bassregister, mit den spirituellen Noten und den frei-schwebenden Saxofon-Licks, gesucht hätte.

Waldman schrieb damals über die Debüt-Veröffentlichung unter dem nom de plume: »Diese Songs handeln meist von der Reinigung von ungebetener Dunkelheit. Eine Art von Heilung für eine Art von Gift. Eine Art von Tod für eine Art von Erneuerung. Ich hoffe, ihr könnt dieser Musik Sinn und Freude abgewinnen. Mit aufrichtiger Dankbarkeit, Devin Brahja Waldman.«

Es ist ein großes Versprechen, eines das etliche Male in der Geschichte der Musik-Menschheit getätigt wurde: Wer hier klickt, einschaltet, dies oder jenes auflegt, runterlädt und/oder langsam reingleiten lässt, wird geheilt. Er knüpft an die Verheißungen des Spirituals an, weiß sie aber sowohl gedanklich als auch inhaltlich in eine neue Zeit, unsere heutige zu übersetzen. Wo Pharoah Sanders oder Coltrane noch Forschungsarbeit betrieben haben und das Art Ensemble sowie seine Chicagoer Freunde über den Globus reisen mussten, steht für Waldman längst die Welt, Dies- und Jenseits, Sinnes- und Bewusstseinserweiterungsstufen offen.

Ohne nach Äthiopien pilgern zu müssen, kann er Anno 2023 amharische Sounds genauso inkorporieren, wie europäische, subversive Klangforschungen zitieren. Manchmal scheint ihm das zuzufliegen, dann wiederum nimmt er Kontakt auf zu den anfangs genannten Musik-Ikonen (genau: Smith, Moore, Mooney, aber auch Mette Rasmussen oder Free-Jazz-Drum-Legende Hamid Drake) und lernt direkt von den besten Lehrmeistern.

Bei so viel Connecterei gerät das Werk auch immer wieder an seine Grenzen. Die insgesamt zehn Musiker*innen seiner Combo wollen spielen; doch Waldman weiß sie zu bändigen, lässt ihnen zugleich Platz. Immer wieder klingt die Musik, als würden gleich mehrere Stücke parallel laufen und doch funktioniert das alles wie er selbst: Wo andere porös oder mürbe werden, wird das Projekt BRAHJA produktiv. Dann verliert man sich in den verschiedenen Spuren – und wird womöglich nebenbei geheilt. Wir werden es beim Abschluss des ersten King Georg Festivals, der Urban Jazz Experience, hören.

Text: Lars Fleischmann

Bex Burch tritt am 27.10. im King Georg auf und präsentiert dort ihr neues Album »There Is Only Love And Fear«. Kuckuck!

Die Musik der Engländerin Bex Burch hat viel mit dem Klang des Kuckucks zu tun, der ihr neues Album »There Is Only Love And Fear« eröffnet bei einem Gang über einen leicht matschigen Weg, der erst am Vorabend den Regen gesehen hat, und dennoch, dank eines erhöhten Anteils größerer Kiesel und leichten Steinbruchs, seine strukturelle Integrität nicht verloren hat. Während man die Schritte also hört, kuckut es eben aus der Distanz.
Und so minimal die Mittel dieses ikonischen Vertreters der nach ihm benannten Gattung sind – zumindest vokal -, so minimal klingt normalerweise die Musik der in Leeds geborenen Bex Burch, die bisher vor allen Dingen mit ihrem Projekt Vula Viel, aber auch als Teil von Boing! und Flock, aufgefallen ist.

beim grandiosen Label International Anthem, das wie kaum ein anderes in den letzten 30 Jahren den Jazz verändert hat, gibt es zwar keine Kuckucke, aber andere bunte Vögel – und Schildkröten.

Ku-ckuck, Kuck-ckuck, Kuck-uck – kleinste Variationen, beim Sender oder beim Empfänger, können große Bedeutungsunterschiede mit sich bringen; das weiß die Improvisateurin Burch natürlich; die Instrumentenbauerin Burch weiß das sogar noch besser. Das diffizile, filigrane Handwerk, das sie schon lange in ihrer künstlerische Praxis eingeführt hat, nimmt dabei nicht allein die Rolle der Möglichkeitserweiterung ein: Das, was bis jetzt nicht möglich ist, das soll halt schon bald möglich werden. Neue Ansätze, neue Spielweisen, neue und alte Freunde.

So wie Burch Instrumente baut, so baut sie auch Brücken: Nach London, nach Berlin – wo sie heute lebt -, nach Chicago. In der Windy City, beim grandiosen Label International Anthem, das wie kaum ein anderes in den letzten 30 Jahren den Jazz verändert hat, gibt es zwar keine Kuckucke, aber andere bunte Vögel – und Schildkröten. Eine davon hört auf den Namen Dan Bitney und wird zu einem der wichtigsten Ansprechpartner von Burch auf ihrem leicht-mäandernden Album. Bitney, der in den 90ern mit der Gruppe Tortoise (wie erinnern uns gerne an die beiden formidablen Sets von Tortoise-Gitarrist Jeff Parker im King Georg zurück) auch eine Brücke schlug: vom Jazz zum Postrock.+

Ihm sind die intensiven polyrhythmischen Strukturen zu verdanken, die gerade in der Mitte des Albums Überhand nehmen, wenn der atmosphärische Minimalismus der spürbar intensiveren Minimal Music weichen muss. Dann klingt plötzlich eine Marimba und man wird daran erinnert, dass Burch auch schon in Ghana ihre Wurzeln (und Brückenköpfe) geschlagen hat. Hier lernte sie einst – in einem dreijährigen Aufenthalt -, wie man Xylophone baut, wie man Holz schleift und wie man es zum Klingen bringt.

Und dann wieder diese Brückenschläge: Musik vom einen Kontinent, gespielt mit Instrumenten von zwei anderen, wird finalisiert auf einem vierten – Bex Burch lässt unseren Planeten ganz klein werden.

Jetzt sind die 12 Stücke vergleichsweise weit von dem entfernt, was über Jahrzehnte als Jazz von New Orleans über Chicago nach New York, Birmingham, Charleston in die Welt geschickt wurde, wieder zurückkam und sich dann zur Kunstmusik entwickelte. Und doch ist die Verbundenheit zu bestimmten traditionellen Denkmustern – nicht Sounds!  – offensichtlich: Es geht um Groove, um Flow, um Dynamik und spirituelle Erfahrungen, um Kunst, Können, das spannende Verhältnis zwischen Komposition und Improvisation, das prozessuale Aufführen und die inhärente Erfahrung der Moderne als große (Ver-)Formerin des Menschen. Da spielt dann folgerichtig Ben LaMar Gay, Mitglied der Chicagoer AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians), zwischendurch das Kornett, als wäre er gerade erst aus dem New Orleans der 1890er eingeflogen.

Und dann wieder diese Brückenschläge: Musik vom einen Kontinent, gespielt mit Instrumenten von zwei anderen, wird finalisiert auf einem vierten – Bex Burch lässt unseren Planeten ganz klein werden, uns näher zusammenrücken bei den intuitiven Lautäußerungen, die wir so oder so ähnlich in Belgien und Frankreich zwischen 1975 und 1985 kennen lernten, die wir auch aus kruderen und verknusten Kraut-Gruppen hören durften, die seit dem immer wieder Revivals feiern durften. Ein leicht verstimmtes Klavier trifft dann auf tropfendes Wasser, ein anderes Lamellophon und die feine Harmonik des Cool Jazz.

Immer heißen die Fragen: Was hören wir denn heute? Wer will ich denn heute sein? Improvisateurin? Bastlerin? Detailorientierte Songwriterin? Jazzerin? Minimal Musikerin? Neu, alt, modern oder anti-modern, jung, alt, 90er, 80er, 2023 oder 2302? Kuck-uck oder doch Ku-ckuck?

Text: Lars Fleischmann

Am 14. Oktober spielt Otis Mensah aus Sheffield in der Reihe Heavy Feelings. Der Support kommt von der Kölner Musikerin Ray Lozano. 

Sheffield ist weit weg davon, der beste Advokat seiner selbst zu sein. Während bei Städten wie Manchester, Liverpool, aber auch Birmingham und Bristol keine sonderlich großen Fragezeichen aufpoppen, hält sich die Stadt in Yorkshire stets im Hintergrund auf. Es wissen womöglich mehr Menschen, dass sich der örtliche Fußballverein den Namen mit einer erfolgreichen Netflix-Serie teilt, als dass sie Bands und Labels der Stadt aufzählen können.
Dabei kann die Halbmillion-Stadt im Windschatten von Manchester auf eine wechselhafte und innovative Musikgeschichte zurückschauen: Da sind die Achtziger mit The Human League und ABC, die Brit-Popper von Pulp oder natürlich das epochenmachende Electronica-Label Warp, das von hier aus die Entwicklung der elektronischen Musik maßgeblich beeinflusste.
Nicht unerwähnt bleiben soll Gitarrist Derek Bailey, der große Free-Jazz- und Improv-Impresario, dessen Label Incus (mit dem Saxofonisten Evan Parker und dem Drummer Tony Oxley) das englische Pendant zum deutschen FMP-Label von Peter Brötzmann darstellte.

In dieser Tradition des „Geschickt im Windschatten-Auftauchens“ stellt sich – womöglich ganz unwillkürlich – der stolze Sheffielder Otis Mensah. »Der englische Norden gibt mir den Platz zu reflektieren«, erzählt er im Interview mit dem New Wave Magazine. Allergisch gegenüber Überstimulation und einem fehlenden Gefühl von familiärer Umgebung, nutzt der 1995 geborene Mensah die leicht zurückgelehnte Atmosphäre. Das Ergebnis: Der Sohn eines DJs und einer Lyrikerin findet die Zeit seine Kunst, den sogenannten Lyricsm, zu perfektionieren. 
Nicht wenige sehen in Mensah die große Hoffnung der englischen Lyrik, die anerkannt näher an der Musikszene entlang operiert. So changiert auch er, wie etwa der Musiker und Literat Kae Tempest oder Coby Sey, zwischen Spoken Word und Rap; lässt manchmal den Klang der Instrumentals, dann wieder seine eigenen Worte in den Vordergrund springen, gleiten oder fliegen.
Dieser Zwiespalt, den Otis Mensah heute sehr produktiv einzusetzen weiß, entsteht in seinen Teenager-Jahren, als er, wie er einst in einem Interview verriet, keine Repräsentanz im literarischen Kanon fand, keinen Zugriff zu Texten hatte, die ihn interessierten oder forderten – zwangsläufig wandte er sich Hip-Hop zu. Statt des englischen Grime-Sounds untersuchte Mensah die Verse von Kid Cudi, Common oder auch Childish Gambino, fand im amerikanischen Conscious-Rap ein Zuhause. Das ergibt aus heutiger Hinsicht sehr viel Sinn, beruft sich etwa der Oscarpreisträger Common auf die Spoken Words-Kunst der sogenannten Last Poets aus Harlem, die wiederum als erste Jazz, Beat-Literatur, assoziative und politische Texte mixten, verbanden und zu einer neuen Musik formten.
Wie einer der Last Poets sprechgesangt auch Mensah heute seine Reflexionen über Männlichkeit in einer Welt, die an ihren patriarchalen Mustern immer häufiger zu scheitern droht; über Geschlechterbinarität; über Rassismus, mental health, struktuelle Gewalt und vieles mehr.
Beats kommen derweil aus Berlin, vom dortigen Boom Bap-Produzenten The Intern – die Instrumental-Spuren geben Mensah den Platz sich auszudrücken, fordern mit ihren geschickten Beat-Settings aber auch mal eine Jazz-hafte Re-Rhythmisierungen.


»Für mich sind Verse wie die Soli von Saxofonisten und Trompetern«, erklärt er und führt weiter aus, »bei Hip-Hop steckt Jazz in allen Ecken und Kanten; das hat mir ermöglicht eingefahrene Strukturen und Formen in einer Jazz-haften Art zu verlernen und etwas neues zu machen.« Als Jugendlicher habe er einst die Posaune gelernt und sei dem Jazz bis heute stets verbunden geblieben.
Wenn Mensah am 14.10. im King Georg auftritt, findet er also den perfekten Ort – und im Zuge der Heavy Feelings-Reihe auch die optimale Repräsentation.
Immerhin kommt der Support an diesem Abend von der Kölner Musikerin Ray Lozano, selbst eine klassisch ausgebildete Musikerin, die über die Jahre ihren Weg gefunden hat und bisweilen ähnliche Antworten gefunden hat. Auch bei Ray Lozano sind die Instrumentals, die sie selbst zu Hause am PC produziert, vom Jazz geschult – und bieten ihrem Songwriting die optimale Basis um das „Pop-Lied“ zu dekonstruieren und in innovative Ecken zu bringen.

Text: Lars Fleischmann

Am 13. Oktober spielt Luke Stewart im King Georg Jazz. Was auch immer das bedeutet.

Luke Stewart Silt Trio

Jazz und Punk: Politisch, rebellisch, autonom. Ich will das Fass nicht weiter aufmachen, also bleibe ich einfach beim Begriff Jazz. Nun, da dies geklärt ist, lasst mich fortfahren: Jazz kann alles. Alles ist Jazz. Und als Urknall der Popkultur ist er, als kosmische Hintergrundstrahlung, in ihr allgegenwärtig.

Dank zahlreicher Produzenten wie Madlib, Pete Rock oder J Dilla wurde dieses musikalische Wissen im HipHop weitergetragen. Auch im elektronischen Genre House wurde Jazz immer wieder kontextualisiert, so in etwa auf dem Track »On A Corner Called Jazz«, veröffentlicht von keinem geringeren als dem Godfather of Deep: Larry Heard alias Mr. Fingers. Aber wen wundert’s. Kann man tatsächlich aus Chicago kommen und dem Jazz entkommen und nicht aus seinem Material geformt werden? Und dann ist da natürlich noch der Prog-Rock: Denn auf der anderen Seite des Atlantiks hat Ian Carter mit seiner Fusion-Band Nucleus in den frühen 1970er Jahren in Großbritannien etliche Generationen von Bands entscheidend geprägt.  Ich könnte hier weitermachen im Programm: Bossa Nova, Library Music, Afrobeat etc. Aber wenn es um das musikalische Erbe des Jazz´ geht, wird eine stilistische Richtung meist außen vorgelassen. Namentlich: Punk. Was in unserem Kontext schlussendlich bedeutet, dass Künstler wie John Coltrane, Archie Sheep, Ornette Coleman oder Albert Ayler die Godfathers of Punk sind. Amen. 

Natürlich: Anders als viele Punkmusiker*innen waren sie an ihren Instrumenten gewachsen und handwerklich begabt bis sonderbegabt. Das ist natürlich kein Muss für Musik, auch nicht für bedeutende. Eine Virtuosität, die ins Nirgendwo führt, kann mich persönlich zu Tode langweilen. Nein, diese Herren waren Punks im spirituellen Sinne: Sie waren musikalisch rebellisch und nonkonformistisch!
Und wenn das jetzt interessant klingt, muss ich an dieser Stelle die Lesenden enttäuschen. Auf die Fortsetzung dieses Themas lasse ich vorerst warten und recherchiere weiter, aber oha!, es gibt viel zu erzählen! Jedoch, falls euch dieser kurze Ausflug angesprochen hat, möchte ich euch ins King Georg einladen, und zwar am 13. Oktober. Im Rahmen der oben abgehandelten Erörterung wird euch ein Konzert des Bassisten Luke Stewart erwarten, und dann gibt es, energetisch gesprochen, Punk! Oder wie ich früher mit Freunden zu sagen pflegte: Ein Konzert auf die Fresse!  

Also, wer ist Luke Stewart?
Natürlich ist es Zufall oder viel mehr als Zufall jemals sein könnte, dass Luke in Washington D.C. wohnt, Hauptstadt der Vereinigten Staaten einerseits und der Geburtsort des Hardcore Punks anderseits. Wer erinnert sich nicht gerne an eine der wichtigsten HC Punk-Bands aller Zeiten, jene Bad Brains, die, Obacht!, zuvor die Jazzfunk Band Mind Power waren. Luke Stewart ist Mitbegründer des CapitalBop Inc., eine gemeinnützige Organisation, die sich für die Erhaltung, Förderung und Präsentation des Jazz in Washington, D.C. einsetzt. Ein politischer Graswurzel-Aktivismus, absurd nahe an der Do It Yourself- Mentalität der Anarcho- und Hardcore-Punkbewegung der 80er Jahre. Selbstverständlich existierte eine DIY-Mentalität bereits vor dem Punk, vor allem im Jazz.  Die AACM aus Chicago entstand (1965) letzten Endes durch die Initiative einiger South Side Chicago Cats, aber das ist eine andere Geschichte.  Also zurück zu Herrn Stewart, der außerhalb der USA vor durch seine Rolle bei Camae Ayewa Ann Inez alias Moore Mothers Projekt Irreversible Entanglements bekannt wurde. Dieses Projekt entstand 2015 aus einem Protest gegen den Tod von Akai Gurley, der durch die Hände eines New Yorker Polizisten starb.  Seitdem zählt das Ensemble mit Luke Stewart und seine weiteren Mitglieder*innen zu den wichtigsten Akteuren der politischen Jazzlandschaft in den USA. Jazz und Punk: Politisch, rebellisch, autonom.

Doch so kurz vor Schluss sei gesagt, dass ich euch Luke Stewart nicht als Punk verkaufen möchte, obschon er mit seinem Duo Blacks‘ Myths im Jahre 2019 ein großartiges Noise Rock/ Free Jazz Tape veröffentlichte.  Luke Stewart spielt Jazz, was auch immer das bedeutet.

Text: Hermes Villena

 

Wunderkind – ja oder nein? Die jazzende Singer-Songwriterin Rosie Frater-Taylor im Porträt.

Bekanntermaßen gibt es einige Worte im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch, die aus dem Deutschen stammen: Kindergarten, Schwermut, Fernweh, Leitmotiv … und Wunderkind.
Letzteres Wort ist in den letzten Monaten und Jahren gleich mehrfach gefallen, wenn es um die britische Musikerin Rosie Frater-Taylor ging. Ob sich ihre Musik tatsächlich in den Bereich der Wunder verfrachten lässt – oder doch Ergebnis harten Trainings ist -, das lässt sich am kommenden Sonntag, den 30. April im King Georg auf der Bühne sehen. Aber zunächst wollen wir die sensible Songwriterin hier vorstellen.

Es sprach einiges dafür, dass Rosie Frater-Taylor Musikerin werden würde. Der Gedanke drängt sich geradezu auf, bedenkt man, dass ihre Eltern selbst im Musik-Business sind. Ihre Mutter ist die schottische Sängerin Josie Frater. Anfang der 1990er Jahre lernte sie den Drummer Steven Taylor kennen und gründete erst eine Acid-Jazz-Band (The Runners; einziges Album »Phonetic«) und dann eine Lebenspartnerschaft. Ihr Spross Rosie sollte sich als Kind noch an die Drums setzen und ihrem Vater nacheifern, schon bald aber die Gitarre für sich entdecken. Ihr Vater reagierte alles andere als veschnupft, sondern spielte für seine Tochter Schlagzeug ein – und das macht er bis heute, wie man auf dem zweiten Longplayer »Bloom« aus dem Jahr 2021 hört. »Mein Vater spielt die Drums auf der Platte und ich denke, das hört man auch. Man kann diese interfamiliären Ähnlichkeiten erkennen«, erzählte sie dem Blog Jazzrevelations. Man habe halt sich ähnelnde Instinkte, was Musik anginge. Generell, so hat Frater-Taylor bereits mehrfach betont, ist diese Verbindung zu ihrer Familie ein wichtiger Antrieb in ihrer Musik.

Wo Familie ist, da ist auch ein Zuhause. Und wo ein Zuhause ist, da kann man sich auch einrichten. Vielleicht überinterpretiert man den Sound der 23jährigen, aber man meint doch eine gewisse Tendenz zu hören: Frater-Taylor richtet sich in ihren Songs – genauso in den wunderbaren Cover-Versionen, die sie auf dem Album unterbringt – etwa Fleetwood Macs »Dreams« – ein, macht sie zu einem Heim und agiert mit einem Urvertrauen zu den eigenen Fähigkeiten, aber auch zu den Bedingungen, unter denen die Musik geschieht und entsteht. Neben familiärer Wärme ist auch ihr eigenen Do It Yourself-Ansatz Schlüssel zum Erfolg. Schon zu Teenagerzeiten bastelte sie Tracks am Computer und in der Software »Cubase« zusammen, bis heute hält sie die Zügel in der Hand. Keine Entscheidung wird ohne sie getroffen. Songwriting und Arrangements: Frater-Taylor tritt wie eine kreative Urzelle, eine singend-jazzende Ich-AG auf.

Den gewissen Eigensinn kann man auch hören, denn ihre Musik ist zwar extrem eingängig, aber nie beliebig oder simpel. Ihre Harmonien sind eindeutig dem Jazz entnommen, die Stimme und Gesangstechnik genauso – hier wird neben soulig-poppigen Gesangsparts gerne komplex gescattet.

Das gleiche gilt für ihre Gitarrenparts, die zwischen einfachen Akkorden und hochstilisierten, verdichteten Läufen changieren: »Man hat mir häufiger gesagt, dass ich nicht den einfachen Weg wähle.«

Zum Chartserfolg kommt man anders, das stimmt. Der Weg führt aber zu einer leidenschaftlichen Anhänger*innenschaft: Ihr Mix, der so unterschiedliche Positionen wie Esperanza Spalding und Joni Mitchell unter einen Hut bekommt, dann bei George Bensons Gitarrenriffs vorbeischaut, an Jacob Collier vorbeirennt, um endlich bei Lewis Taylor zu landen. Gerade die Musik des 57jährigen Briten beeinflusst sie nachhaltig:

»Es gibt unzählige Geschichten von Musikern wie Lewis Taylor, die von  Major Labels gesignt wurden, bloß um wieder fallengelassen zu werden, weil ihre Musik zu kompliziert ist. Sie versuchen genre-mäßig es anders zu machen. An den Punkt will ich auch kommen.« Wie dieser Punkt aussehen soll? Klar, in der Auflösung von Genregrenzen, die längst als überflüssig und unnütz wahrgenommen werden. Bei Rosie Frater-Taylor dreht sich alles um die vermeintliche Grenze zwischen Folk und Jazz, die hierzulande hart verteidigt wird, derweil in Großbritannien schon von jeher durch ihre Pub-Sounds- und Grassroots-Culture diskutiert wird. Das erinnert indes auch an die übergreifenden Genresynthetisierungen der beiden Gitarristen John Scofield und Bill Frisell.

Große Namen, die Frater-Taylor aber nicht zu scheuen braucht. Immerhin beweist sie mit »Bloom«, dass es längst an der Zeit ist überkommene Muster abzulegen. Versöhnlich und doch fordernd, mitreißend und auf Distanz haltend, sensibel und selbstbewusst: Wer sich sowas traut, der oder die ist entweder übermütig oder doch … ein Wunderkind.

Text: Lars Fleischmann.

Steve Gunn, der Geheimtipp, den viele schon kennen – und alle kennen sollten. Ob Indie- oder Jazz-Fans. Am 15. April spielt er live in der King Georg Klubbar.

Wenn der Dauerbrenner unter den amerikanischen Musikmagazinen, der Rolling Stone, einen Künstler als Best Kept Secret bezeichnet, dann gleicht das einem Ritterschlag. Das Best Kept Secret, also das am besten gehütete Geheimnis ist Steve Gunn womöglich gar nicht mehr – jedenfalls nicht, wenn man sich in Insider-Kreise und unter Musiker*innen umhört. Da ist dem Musiker aus dem Städtchen Lansdowne bei Philadelphia/Pennsylvania nicht nur die höchsten Würden, sondern auch totaler Rückhalt gewiss: Lee Ranaldo und Kim Gordon der Noise-Revolutionären Sonic Youth gehören zu seinen Fans, genauso wie die junge Indie- und Americana-Garde um Angel Olsen oder Kurt Vile.

Letzterer hat zudem unmittelbar Einfluss auf Gunns Entwicklung genommen, als er ihn zum Mitglied seiner Backingband, den Violators, machte – und damit einem weltweiten Publikum bekannt machte. Davor trudelte Gunn auf seinen eigenen Pfaden durch die Musikgeschichte. 2007 erschien sein erstes Album. Mit seinem eigenen Namen betitelt, war »Steve Gunn« zwar nicht das erste Lebenszeichen, aber doch Startetappe für einen musikalische Ausdruck, der vordergründig nach Indie-Rock oder Singer/Songwriter klang, aber Anschluss fand an modernen Improvisationsformen, die sich stracks aus der amerikanischen und europäischen Jazz-Szene entwickelten. Tief beeinflusst von Chicagoer Postrock-Experimenten von Jeff Parker, Tortoise und David Grubbs aus den Neunzigern, genauso von der wilden deutschen Free Jazz-Szene, klingt Steve Gunn damals wie ein Anhänger des Serialismus und der improvisierten Minimal Music. Nachhören kann man das unter anderem in der Zehnerplatten Folge mit dem Jazz-Experten Felix Klopotek.

Der Jazz hat Gunn indes auch Jahre später nicht verlassen. 2019 nahm er das Album »The Unseen In Between« in den berühmten Strange Weather Studios in Brooklyn, New York, auf. Nicht weit weg von seiner eigenen Wohnung spielte er hier nicht nur mit dem Bob Dylan-Bassisten Tony Garnier, sondern auch an einem von Charles Mingus‘ originalen Kontrabässen. Davon ab beweist Gunn mit der Platte vor allen Dingen seine Liebe zu bluesigem Americana.

Davor, dazwischen und danach reiht Gunn Platte an Highlight-Platte. Da ist zum Beispiel seine 2013er LP »Time Off«: Hier präsentiert er sich etwa als reifer Blues-Folker, der zwar sicher auch Bob Dylan- Platten im Regal stehen hat, aber vor allen Dingen JJ Cale oder auch Smog/Bill Callahan studiert und rezipiert hat. In Pennsylvania beginnen die Appalachen – und das hört man hier auch. Der bergige Folk des us-amerikanischen Kernlandes hinterlässt seine deutlichen Spuren auf „Time Off“; ohne je altbacken oder konservativ zu klingen.

Da sind aber auch die vier grandiosen Alben des Gunn-Truscinski-Duos, das er zusammen mit John Truscinski bildet. Auf »Soundkeeper« (2020) untersucht das Gespann weite Korridore zwischen Improvisation und Komposition. Auf der Basis von festgelegten Patterns und musikalischen Ideen zeigt man sich spontan inspiriert – das kann mal 16 Minuten anhalten, wie im Titelstück, oder nur zwei Minuten. »Closeness« heißt dann eine dieser Miniaturen und ist ätherisch-verhalltes Experiment aus Synthesizern, Drums und heavy-reverb-Gitarren – aber auch sinnliches Vergnügen von sublimer Schönheit.

Es sind wie so oft auch gegensätzliche Welten, die Steve Gunn immer wieder vereint. Gegensätzliche Attribute werden in seinem Werk zu partner-in-crime, die sich zu etwas neuem verschränken: Rock und Jazz; ausufernd und Songs von wenigen Augenblicken; Instrumental und das gesungene Lied; verkopft und sinnlich; komponiert und improvisiert – nur um einige dieser Paare zu nennen. Das macht ihn eben zu solch einer wichtigen Stimme in der aktuellen Musikwelt. Gunn ist ein Grenzgänger, losgelöst von Genrekonventionen oder Karriereschritten. Einer, der seinen Weg geht, dabei aber nie unnötig aneckt. In etwas mehr als 15 Jahren sind so etliche Alben entstanden – und wer sich in das Werk hinein, der droht im besten Sinne darin zu versinken. Ein Highlight nach dem anderen, immer wieder neue Favoriten. Das selbe gilt natürlich auch für seine Live-Auftritte: Steve Gunn ist als Gitarrenvirtuose jemand, der den FLOW gepachtet hat. Das alles und noch viel mehr kann man dann im King Georg sehen, wenn das nicht mehr ganz so gehütete Geheimnis am 15. April zu Besuch kommt.

Text: Lars Fleischmann

Mit Rainer Trüby kommt eine echte Legende und ein Guru der Música Popular Brasileira am 1.4. in die Klubbar.

Rainer Trüby gilt nicht bloß als Ikone des deutschen Nu Jazz, sondern auch als einer der hiesigen Gurus der MPB, der Música Popular Brasileira.

Kennen Sie zum Beispiel Sergio Mendes & Brasil 66 oder Tom Ze? Dann könnte das durchaus unmittelbar oder mittelbar an Rainer Trüby liegen, der seit den Neunzigern mit seinem umtriebigen Verhalten zwischen Auflegen, Kompilieren und selbst (Band-)Projekte ins Leben rufen die deutsche Digging-Community geprägt hat, wie nur wenige andere. Das geht so weit, dass – so will es der gut überlieferte Mythos – er selbst die Fantastischen 4 mit Samples ausgestattet hat.

Jetzt ist Asha Puthli keine Brasilianerin und Trübys Einfluss sollte hier erst beginnen; vom Höhepunkt sind wir 1992 noch weit entfernt. Stattdessen brach er seine Zelte in der baden-württembergischen Heimat ab, beendete seine Party-Nacht-Reihe im legendären On You-Club und zog in die damalige Underdog-Stadt Freiburg. Die Nähe zur Schweiz sollte sich bemerkbar und bezahlt machen, denn die Nachbarn aus dem nahen Basel kamen in die Clubs an der Dreisam.
Trüby lernte Bernd Kunz kennen und gründete A Forest Mighty Black – ja, klar, der Schwarzwald ruft. 

Langsam schält sich ein eigenes Genre aus der Schale: Nu Jazz. Auch wenn Trüby nie ganz glücklich mit dem Begriff werden sollte: Gefühlt ist die Nähe zu heutigen Beatscene-Experimenten, zum Boom-Bap und zu Sample-Hip-Hop näher. Aber was soll es? Wenn die Leute dadurch die Liebe zum Jazz lernen, dann ist doch allen geholfen, oder?

Nur entfernt strahlen hier Schnippsel von Jazz-Platten durch, manchmal auch nur über Soul und Funk vermittelt. Wir reden derweil über die Neunziger und im Mainstream war Jazz spätestens mit Bill Clinton keine bedeutende Größe mehr. Während aber an einigen Stellen Revivals vorbereitet werden, die erst etwas später zünden sollten – und an wiederum anderer Stelle die Durchlässigkeit gegenüber Free Jazz so groß, dass übersehene Komponisten wie Sun Ra oder Peter Brötzmann auch beim schnöseligen aber meinungsstarken Musikmagazin-Lesertum ankommt -, konzentriert Trüby in Freiburg seine Diggerkünste. Plötzlich stolpert er immer häufiger über Songs und Tracks, die in Kleinststückzahlen veröffentlicht wurden, aber vergleichsweise leicht lizenziert werden konnten.
So entstehen zum Beispiel die »Glücklich«-Compilations für das Stuttgarter Compost-Label: Gesammelt werden hier nicht die brasilianischen, latin oder afro-karibischen Originale, sondern meist virtuos, manchmal wunderbar absurd nachgespielte oder herbeifantasierte Stücke aus deutschen/europäischen Landen.

»Glücklich« von Christian Lembrecht, Claus-Robert Kruse, Rolf Köhler, Peter Franken, Peter Weihe aka To Be. 1977 in Hamburg eingespielt, längst vergessen als Trüby dieses und weitere Stücke 17 Jahre später auf Platte bannt. Nu Jazz oder Rare (Organic) Grooves – egal wie man das Kind damals nennen sollte, wichtig waren die musikalischen Lektionen bezüglich Groove, Improvisation, Spielfreude.

1997 gründet Trüby dann in Freiburg das Trüby Trio – zusammen mit Christian Prommer und Roland Appel. Doch auf ein Album musste man erstmal länger warten; man spezialisierte sich auf Remixe, auf Live-Auftritte und auf einen DJ Kicks-Beitrag. Die Mutter aller DJ-Mixe klopfte 2001 an. Legendär sind die 78 Minuten voller Elan und Esprit, die Techno-Kids wie House-Hipster gleichermaßen irritierte: Tanzbar war das, auch wenn man die Drum-Machines (fast) vergeblich suchte. An dieser Stelle wird aus Nu Jazz langsam Deep House – auch spannend.
Erst zwei Jahre später kam dann das eigentliche Debüt-Album. Als »Elevator Music«, also Fahrstuhlmusik, sollte die Platte in die Geschichtsbücher eingehen. 

Später sollte sich das Trio trennen – im Guten – und Rainer Trüby fortan alleine oder mit immer neuen Partner*innen Singles produzieren, während weiterhin in regelmäßigen Abständen Compilations bei renommierten Labels erscheinen. Der längst zum (musikalischen) Weltenbummler mutierte DJ, füttert nun Plattenteller an allen möglichen Orten mit seinen seltenen Sounds und seinen groovy House-Nummern. Wie zum Beispiel »Jeck«:

Der King Georg-Klassiker passt natürlich wie die Faust aufs Auge für Trübys Besuch am Dom. Auch im bereits vierten Jahrzehnt seiner DJ-Tätigkeit ist der Schwabe – immerhin hat er die Liebe zu gutem Wein in Baden etntdeckt – kein bisken müde. Auch 2023 wird noch gemischt und gemixt, ausgegraben und wieder lieben gelernt. Wir freuen uns auf eine echte Legende.

Text: Lars Fleischmann

Das Konzert des Projekts LIV ALMA der Kölner Saxofonistin Johanna Klein am 25. März nehmen wir zum Anlass, um einen Blick auf das Label zu werfen, bei dem das dazugehörige Album erscheint.

Papercup Records war bereits mehrfach ein gern gesehener Gast und Präsentator bei Konzerten im King Georg. Der vielseitige Label-Ko-Chef Keshav Purushotham war schon bei unseren Podcast-Formaten Klubcast – Die Zehnerkarte UND Jazzcast – Die gute Unterhaltung zu Gast.

Bei Papercup muss man normalerweise an Einweg-Getränkebecher denken, die nach dem Köln-Marathon zu Tausenden auf den Straßen liegen. Doch das Label von Keshav Purushotham und Steffen »Steddy« Wilmking hat mit Überbleibseln oder unnötigen Müllbergen rein gar nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Wie kaum ein anderes Label hat Papercup in den letzten Jahren das Kölner Musikgeschehen geprägt und verändert – und zwar zum Besseren.

Das hätte man 2015 nicht gedacht; immerhin befand sich das Label damals noch in einem Dornröschen-Schlaf. Um das zu verstehen, lohnt ein Blick in die Vergangenheit: Timid Tiger wurden in der ersten Hälfte der Nullerjahre als die Indie-Band mit den süßen Videos (»Miss Murray«) um einen Comic-Tiger bekannt. Gesicht der Gruppe war Frontmann Purushotham. 2009 wechselte dann das Line-Up, Wilmking kam dazu, man ging zusammen zur Sony Tochter Columbia und war immer noch die sympathische Band von nebenan. Nichtsdestotrotz gab es Verschleißerscheinungen und 2012, nach lange währenden Arbeiten am Album »The Streets Are Black«, sind Timid Tiger langsam Richtung Break-Up getaumelt. Um das Album doch noch zu veröffentlichen, gründeten Purushotham und Wilmking schnell ein eigenes Label.

Papercup Records war geboren – nur um dann erstmal wieder in der Versenkung zu verschwinden. Es standen andere Projekte an: Wilmking, der sowieso seit Mitte der Neunziger schon permanent als Drummer, Produzent, Masterer, Songwriter auftrat, produzierte 2011 das Album »Casper XOXO« und war in Folge ein willkommener Gast in den Studios und auf den Alben der deutschen Charts-Größen. Purushotham arbeitete als DJ und entwickelte allmählich sein neues Alter Ego Keshavara. Für die Veröffentlichung des Solo-Debüts wurde das alte Label 2016 wiederbelebt. »Wir wussten damals gar nicht genau, was man alles mit einem Label machen kann. Es war als Kanal für Keshavs Output gedacht – und entwickelte sich dann halt weiter«, so Steddy im Gespräch 2020. 

Und was für eine Entwicklung Papercup nahm! Mittlerweile gibt es neben dem Hauptlabel Papercup noch vier weitere Sub-Label. Da ist der Instrumental-Hip-Hop-Ableger A Good Cup of Hope, Ambient gibt es bei Breezzze. Relativ frisch ist die Musikiste dazugekommen und ganz neu: AAa (Am Anfang angekommen).  Doch wie findet das Label eigentlich seine Künstler*innen? Gerade Keshav tut sich hier hervor (»Er ist unser geheimer A&R«, so Steddy), der als Kenner der Kölner Szene hauptsächlich nach neuen Acts sucht. So kommt immer noch ein Großteil der Künstler*innen eben aus Köln – und aus allen Ecken der Musik. Da wären die Math-Jazz-Indie-Rocker von Infant Finches, das Ambient-Projekt Plasma Hal oder der Psych-Indie der Band ACUA. Ein breiter Einblick in die Kölner Szene.

»Früher machten wir Musik und es gab immer wieder die gleichen Fragen: Wo geht man damit hin? Wo bringt man das jetzt raus? Das war dann auch der Hauptfaktor: Eine Plattform für uns selbst und unsere Freunde bieten« so Keshav. Das klingt pragmatischer als es letztlich ist, die Anerkennung bleibt dennoch nicht aus.  Es gab mittlerweile Preise, das Kern-Projekt Keshavara hat letztes Jahr ein neues Album veröffentlicht und deutschlandweites Echo bekommen. Und auch andere Bands und Künstler*innen können die Plattform nutzen, um ihre bis dato besten Alben zu veröffentlichen.

Wie etwa LIV ALMA, das Projekt der hervorragenden Jazz-Saxofonistin Johanna Klein. Hier taucht sie ab in einen elektronischen Bedroom-Pop amerikanisch/britischer Schule, der mit wenig Mitteln, dafür mit sehr viel Tiefe daherkommt. An ihrer Seite Drummer Jan Philipp – bekannt als Jazzer, aber auch als Teil des Duos Infant Finches.
Leftfield trifft hier auf extrem modernen synthetischen Soul – die Nähe zur britischen Durchstarterin Tirzah und ihrer non-binären Produzent*in Mica Levi ist unverkennbar. Was natürlich hervorragend auch zu Papercup passt, einem Label, dem man stets anmerkt, dass man mehr als ein „deutsches Label“ sein möchte: Internationaler in Sound und Ausdrucksweisen, über den Tellerrand hinausschauend. Lokal vernetzt, global in der Denkweise. Klingt gut, ist es auch!

Text: Lars Fleischmann

Ein Gespräch mit dem Oscar-Kandidaten Ozan Tekin über sein Album »Anarya« – und die Rolle, die ein altes Klavier darauf spielt.

Ozan Tekin

Ozan Tekin hat es vor bereits vor sechs Jahren aus seiner Heimat Türkei nach Bochum ans Folkwang Institut für Pop-Musik verschlagen. Noch während der Corona-Pandemie hat er dort im Jahr 2021 seinen Master gemacht. Unterdessen war er in und bei verschiedenen musikalischen Projekten (wie etwa Boddy) live und im Studio dabei. Daneben begann er seine Arbeit im Team von Volker Bertelmann (alias Hauschka). Der Wahl-Kölner Komponist und Musiker veröffentlichte zuletzt außerdem seinem Album »Anarya«. Mit diesem Album wird Tekin am Samstag, den 11. März 2023, in der King Georg Klubbar auftreten; bevor am nächsten Tag dann die Oscars verliehen werden. Noch vor dem ereignisreichen Wochenende sprachen wir mit ihm über »Anarya«.

Ich glaube, dass Dein Album »Anarya«, das Du im King Georg vorstellen wirst, zunächst einmal viel mit Deiner (Lebens-)Situation in Köln zu tun hat: Du bist in Adana geboren und über Istanbul, wo Du lange Zeit gelebt hast, nach Köln gekommen. Was hat Dich hierhergeführt?

Die Existenz und das Überleben als Künstler in einem Land mit vielen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konflikten wurden für mich sehr schwer. Deshalb suchte ich nach einem alternativen Umfeld/Ort, um weiterhin Kunst machen zu können, ohne Kompromisse einzugehen und meine Existenz als Künstler in Frage zu stellen. Deutschland war eines der Länder in Europa, das ich schon oft besucht hatte, und ich hatte eine gewisse Vorstellung davon. Zufällig sah ich die offene Ausschreibung des Folkwang Institut für Pop-Musik und bewarb mich. Sie nahmen mich an und ich zog 2017 von Istanbul nach Bochum. Als ich nach Bochum zog, hatte ich keine Ahnung von Köln, aber nachdem ich ein Jahr lang in Bochum gelebt hatte, fand ich mich in Köln wieder und lebe jetzt seit fast fünf Jahren hier.

Musikalische Bezugspunkte sind Aphex Twin, Bill Evans, Gustav Mahler, Radiohead, Vaqif Mustafazade und Charles Mingus. Diese Liste ließe sich fortsetzen.  

Ozan Tekin

»Anarya« bedeutet »rückwärts wandern«, wenn ich es richtig verstehe. Was bedeutet es für Dich im Allgemeinen? Was ist damit gemeint? 

Es gibt mehrere Gründe, warum ich das Album »Anarya« genannt habe.  Das Klavier, auf dem ich die Aufnahmen für »Anarya« gemacht habe, war ein sehr altes und kaputtes Klavier, das ich in meinem Studio mit viel Zeitaufwand reparieren musste. Die Pflege und das Spielen dieses Klaviers waren ziemlich anstrengend und inspirierend zugleich. Ich musste daran denken, dass ich mich um eine sehr alte Person kümmere, die bald sterben wird, und ich versuche, ihr in ihren letzten Tagen etwas Trost zu spenden. Je mehr Zeit ich mit dieser Person verbrachte, desto mehr erinnerte sie sich und ließ ihre Erinnerungen ein letztes Mal aufleben. Nachdem ich einige Monate mit diesem Klavier verbracht hatte, wurde mir jedoch klar, dass ich, je mehr ich Klavier spiele, auch einige Erinnerungen oder Gefühle aus meiner Vergangenheit wieder aufleben lasse. Dann wollte ich all diese Erinnerungen und Gefühle mit der transponierten Erzählung in »Anarya« zusammenbringen, die eine Geschichte über eine Rückwärtswanderung erzählt.

Und was hat das für Sie auf musikalischer Ebene bedeutet?

Nach vielen Jahren des Produzierens in verschiedenen Musikgenres ist es für mich sehr reinigend und therapeutisch, mich auf ein einziges Instrument zu konzentrieren, ein Klavier, das Instrument, mit dem ich angefangen habe, Musik zu machen, und nur damit Musik zu produzieren. Ehrlich gesagt stand es vor der Pandemie nicht auf meiner Agenda, ein solches Klavier-Album zu machen, aber die Umstände bestimmten meine Art zu produzieren. Ich bin froh, nach Jahren zu dem Instrument zurückzukehren, mit dem ich ursprünglich Musik gelernt habe, und mit ihm einen musikalischen Ausdruck und eine Erzählung zu schaffen, die intensiv, impulsiv und lehrreich sein konnten.

Gab es Idiome – zum Beispiel solche, die als »orientalisch« und »abendländisch« bezeichnet werden -, die Du umgehen wolltest? 

Ja, natürlich. Ich finde diese Begriffe in der heutigen Zeit in vielen Fällen ziemlich unzureichend und begrenzt. Als Künstler kann man sich sowohl von seinem Land und seiner Kultur inspirieren lassen als auch von irgendwo oder etwas anderem. Deshalb glaube ich nicht, dass Kunst unbedingt mit einem »Land« verbunden sein sollte, das man dann sofort als orientalisch oder abendländisch abstempelt.

Wie hast Du die musikalische Sprache der Platte gefunden?

Anarya hinterfragt vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit, und ich glaube, das spiegelt sich auch in der Musiksprache wider. Die Mischung aus vielen Genres, Zeiten und Orten, die für mich inspirierend sind, definiert die musikalische Erzählung des Albums, die kaum einem einzigen Ort zuzuordnen ist.

Was waren deine musikalischen Vorbilder oder Bezugspunkte für das Album?

Aphex Twin, Bill Evans, Gustav Mahler, Radiohead, Vaqif Mustafazade und Charles Mingus. Diese Liste ließe sich fortsetzen.  

Du hast das Album mit einem alten Klavier aufgenommen, das für die Platte eine besondere Bedeutung hat. Was bedeutet es für dich in King Georg, auf einem anderen Instrument zu spielen?

Jedes Klavier klingt und fühlt sich natürlich anders an, und ich weiß, dass es unmöglich ist, auf dem Album denselben Klang zu erzielen, den ich bei den Konzerten mit diesem alten Klavier aufgenommen habe. Ich nehme jedoch an jedem Klavier meine eigenen Modifikationen vor, die mir dabei helfen, dass die Klaviere, die ich in den Konzerten spiele, näher an dem Klang liegen, den ich für das Album aufgenommen habe. Es wird mein erstes Konzert mit einem Flügel im King Georg sein, deshalb bin ich sehr gespannt und freue mich darauf.

Interview: Lars Fleischmann, Foto: Lucie Ella

Ein Gespräch mit dem Komponisten, Songwriter und Popstar Albrecht Schrader.

Albrecht Schrader

Albrecht Schrader ist ehemaliger (Co-)Leiter des Rundfunk Tanzorchesters Ehrenfeld – bekannt aus Funk und Fernsehen –und damals zu seiner Zeit in Köln war er ein mehr als gern gesehener Gast im King Georg. Vor allem ist er aber ein grandioser Alleinunterhalter alter Schule, der wie die anderen Hamburger Größen (Carsten Erobique Meyer oder Rocko Schamoni) viel Bock auf Musik hat und auf verdammt gut gemachte Unterhaltung setzt. Wie eine Mischung aus Hans Albers und Hildegard Knef textet und singt er auch auf »Soft«, seinem dritten Solo-Album.
Am Rande seines exklusiven Auftritts im King Georg (sonst konnte man ihn vorerst nur in der Heimat und der Bundeshauptstadt erhaschen) führten wir dieses Interview.

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Seit deinem letzten Konzert, 2019, ist es das erste Mal, dass du wieder in Köln ein Konzert gibst – ganz schön lang eingedenk der Tatsache, dass du hier fast 15 Jahre gewohnt hast. Nehmen wir diesen Tag zum Anlass darüber zu reden, was dich damals nach Köln verschlagen hat.

Ich bin 2005 aus Berlin – nach einem echt doofen Jahr dort – nach Köln zum Studieren gekommen. Ich hatte in Berlin bei ein paar Pop-Sachen mitgespielt; aus denen wurde aber nichts. Und ich wollte dann weg. Köln wurde es dann eigentlich eher aus Verlegenheit: Der Numerus Clausus passte. Obwohl ich niemanden kannte, schien mir das eine bessere Wahl als Hamburg, wo ich einfach nicht studieren wollte. Ich bin dort in den Elbvororten groß geworden und wollte damals einfach nicht mehr zurück, sondern nur weg. 

Wenn du Elbvororte sagst, dann muss man das aus Köln wo genau verorten?

Die psychosozialen Elbvororte beginnen hinter Bahrenfeld. Dann kommen hauptsächlich Ein-Familien-Häuser.

Du hast in Köln Musikwissenschaften, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Klassische Literatur auf Magister studiert. Da sieht man – nun mal abgesehen von der Klassischen Literatur – immer noch Kontinuitäten in deinem Leben. Dazu kommen wir gleich. Wir müssen vorher noch erörtern, wie es dich dann auf die Bühne verschlagen hat. Vielen wurdest du in der Kölner Szene durch deine »Galerie Decadence«-Abende in der Baustelle Kalk bekannt.

Das war damals eine Fortführung der »Galanacht der Langeweile«, die auch schon in der Baustelle stattgefunden hatte. 2013 war das eine, offen gestanden stark von Studio Braun-Abenden beeinflusste, Schnapsidee, die ich auf die Beine gestellt habe, während ich noch für meine Magisterprüfung gelernt habe. Diese Paukerei fand ich furchtbar frustrierend und empörend; und aus Wut und Langeweile habe ich diesen Abend mit zwei, drei Ideen entworfen.

Der Ort, an dem wir hier gerade sitzen, hatte auch seinen Anteil, oder?

Ja, genau. Ich war vorher im King Georg zu Gast gewesen und hatte mit der Filmemacherin Nicole Wegener, die damals den Do It Yourself-Kulturort Baustelle Kalk gemacht hat,  gesprochen. Ich erzählte ihr von dieser Idee und wider Erwarten war sie total begeistert. Sie hat sich dann mit ihrer Baustellen-Partnerin Meryem Erkus abgesprochen – und wir haben dann diesen unglaublich lustigen, improvisierten Abend auf die Beine gestellt. Das wollten wir aber nicht einfach wiederholen und haben stattdessen eine Reihe daraus gemacht: Die Galerie Decadence.

Wie meintest du damals das Wort Decadence? Bezog sich das auf dekadente Bonzen oder eher auf das Baudelaire’sche Wort von der Niedergangsgesellschaft, die den Rausch der Moderne vorhergesehen hat: Also irgendwo zwischen Stimmung und Morbidität?

Ich sag es mal so: Ich komme aus der Hafen- und Kaufmannstadt Hamburg. Diese Stadt lebt immer noch von den Widersätzen. Ich habe Bilder im Kopf von der Fahrt mit dem elterlichen Mercedes, wo man noch die Türen verriegelt hat, wenn man über die Reeperbahn gefahren ist. 
In der »Szene« äußert sich das eher dandyhaft: Man geht im Vintage-Anzug, schick gemacht, in irgendeinen runtergekommen, ranzigen Laden. Diese Gegensätze mag ich bis heute gerne – und diese beiden Pole waren dann auch die Grundidee für die Reihe.

Kann man bestimmte Aspekte deines neuen Albums »Soft« ebenfalls in diese Richtung deuten? Dort hat man häufig das Gefühl, dass du ein Milieu abbildest, das zwischen High (»Cardigan of Love«) und Depression (»Donnerstags 8 bis 9«) lebt und nicht ganz damit zufrieden ist, wie die Welt eingerichtet ist.

Ich sehe mich nicht in der Lage, das große politische Lied zu schreiben. Was mich bewegt, schreibe ich von daher eher im Kleinen, von mir aus. Meine Herangehensweise für meine Musik ist, dass ich textlich versuche möglichst klein zu bleiben und das Große über die Musik zu erzählen oder zu lösen. Ich habe dafür einen musikalischen Paten gefunden: Den hervorragenden (Broadway-)Komponisten Steven Sondheim, der vor ein paar Monaten leider gestorben ist. Er war ein Meister darin, die großen Themen nur erahnen und dem Publikum durch kleine, präzise Songtexte genug Raum für ihre eigene Emotionalität zu lassen.

»Soft« ist ein besonderes Album, da es fast anachronistisch in seinem Aufbau ist. Ich will jetzt nicht sagen, dass es in dem Sinne ein Konzeptalbum ist, aber es erinnert sehr an die große Zeit des Pop-Songs in den 1970er Jahren. Man hat viele Balladen, dazwischen Up-Tempo-Nummern und dann die opulenten Werke. Da hört man klassische LPs der Carpenters, Burt Bacharach oder des frühen Scott Walker raus, oder?

Die genannten höre ich sehr gerne und die haben mich ganz bestimmt beeinflusst. Ich würde dennoch nicht sagen, dass das ein »Masterplan« ist oder war. Mir passiert es schlicht und ergreifend in 60-70% der Fälle, dass ich eine Ballade schreibe.
Das Album davor, »Diese Eine Stelle«, das war mit seiner klaren Themensetzung »Herkunftsscham« stärker an ein Konzept angelehnt. Das hat Spaß gemacht, aber war nun mal auserzählt. Diesmal hatte ich einige Lieder geschrieben und eher unterbewusst ist dann »Soft« dabei rausgekommen.

Kommen wir aber nochmal zu deinem Werdegang zurück: Wie hatte sich dein Gig beim Rundfunk Tanzorchester, der Böhmermann’schen Haus- und Showband, mit dem du deutschlandweit bekannt wurdest, ergeben?

Jakob Weiss, der bei der »Galanacht« gefilmt hat, aber sonst bei der Fernsehproduktionsfirma Bild- und Tonfabrik arbeitete, schlug mir vor, dass ich mal zu einem Casting für eine Ensemble-Comedy-Show gehe. Beim Casting selbst war es ein wenig unangenehm, weil ich ja auch kein Schauspieler bin … dennoch hat sich dann daraus ergeben, dass ich mit Jan Böhmermann zusammen Lieder geschrieben habe. Er schrieb die Texte und ich die Musik.

Der Rest ist Geschichte: Das Rundfunk Tanzorchester Ehrendfeld sollte schnell nach seiner Einführung schon ikonischen Status mit seinen Neu-Interpretationen erreichen. Du hast das für eine 15-Personen-Big-Band arrangiert …

Ich und Lorenz Rohde, mit dem ich die Arrangements realisiert habe, haben uns da gut ergänzt. Wir haben zwar beide nie »Arrangement« gelernt, aber wir haben das einfach gemacht. Unsere Interessen – bei ihm Funk und Soul, bei mir eher jemand wie Scott Walker halt – passten perfekt zusammen.

Ihr wurdet durch YouTube mit euren Interpretationen bekannt – durch den ein oder anderen Coup in der Sendung natürlich auch der ganze Komplex –, und dann hast du 2019 aufgehört mit diesem »Traumjob«. Von außen war es eigentlich ein Schock.

Ich hatte schon im Sommer 2018 entschieden aufzuhören. Das wurde nach und nach körperlich und psychisch sehr anstrengend – und ich kam nicht mehr dazu meine eigene Musik zu schreiben und zu spielen. Ich habe dann noch die Tour im Februar 2019 mitgenommen und dann schweren Herzens aufgehört.

Und dann kam auch der Wegzug aus Köln, Richtung Heimat Hamburg …

Das war gar nicht geplant. Ich wollte eigentlich noch in Köln bleiben, erfuhr dann aber, dass neue Räume für Musiker*innen in Hamburg entstehen – und ich wollte endlich mal einen richtigen Musikraum zum Arbeiten. Den hatte ich nämlich in Köln nie. Und dann bin ich bereits im Herbst 2019 zurückgezogen.

Kein halbes Jahr später kam die Corona-Pandemie … was hat das mit dir gemacht?

Das war, gelinde gesagt, doof. Ich hatte das Album »Diese Eine Stelle« noch in Köln fertig produziert und wollte in Hamburg ankommen, ausgehen, Menschen und die Szene kennen lernen – und dann war alles dicht. Am Tage der Lockdown-Verkündung kam das Master meines Albums an; was macht man da?

Wir haben dann kurzerhand das Album-Release in den Sommer vorverlegt. Es wusste ja keiner, wie sich die Musik-Industrie entwickelt, was noch alles passiert. Und wir dachten, dass es keinen Sinn ergibt, dann damit zu warten, sondern sagten »Jetzt erst recht«.

Hat diese Zeit der Entsagung die Grundstimmung auf »Soft« geprägt? Du singst viel über Verletzlichkeit.

Das ist eine gute Frage. Die ersten Songs, die entstanden sind, waren über Menschen, die ich wegen Corona nicht mehr so oft oder gar nicht sehen konnte. So ging die Arbeit los. Und das Thema »Verletzlichkeit«, das wollte ich schon länger anpacken: persönlich und als Musiker. Aber das war lange nicht en vogue, hatte ich das Gefühl. Derzeit und in den letzten Jahren gibt es eine neue Offenheit gegenüber solchen Themen. Da bin ich sehr dankbar.

Das muss künstlerisch dennoch passen; das wurde mir schnell klar. Kunst ist keine Bekenntnisplattform. Aber: Das Wort »Psychotherapie« singen zu können, ohne gleich in totaler Befindlichkeit zu landen, das fand ich sehr großartig.

Interview: Lars Fleischmann.