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Ein Gespräch mit dem Oscar-Kandidaten Ozan Tekin über sein Album »Anarya« – und die Rolle, die ein altes Klavier darauf spielt.

Ozan Tekin

Ozan Tekin hat es vor bereits vor sechs Jahren aus seiner Heimat Türkei nach Bochum ans Folkwang Institut für Pop-Musik verschlagen. Noch während der Corona-Pandemie hat er dort im Jahr 2021 seinen Master gemacht. Unterdessen war er in und bei verschiedenen musikalischen Projekten (wie etwa Boddy) live und im Studio dabei. Daneben begann er seine Arbeit im Team von Volker Bertelmann (alias Hauschka). Der Wahl-Kölner Komponist und Musiker veröffentlichte zuletzt außerdem seinem Album »Anarya«. Mit diesem Album wird Tekin am Samstag, den 11. März 2023, in der King Georg Klubbar auftreten; bevor am nächsten Tag dann die Oscars verliehen werden. Noch vor dem ereignisreichen Wochenende sprachen wir mit ihm über »Anarya«.

Ich glaube, dass Dein Album »Anarya«, das Du im King Georg vorstellen wirst, zunächst einmal viel mit Deiner (Lebens-)Situation in Köln zu tun hat: Du bist in Adana geboren und über Istanbul, wo Du lange Zeit gelebt hast, nach Köln gekommen. Was hat Dich hierhergeführt?

Die Existenz und das Überleben als Künstler in einem Land mit vielen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konflikten wurden für mich sehr schwer. Deshalb suchte ich nach einem alternativen Umfeld/Ort, um weiterhin Kunst machen zu können, ohne Kompromisse einzugehen und meine Existenz als Künstler in Frage zu stellen. Deutschland war eines der Länder in Europa, das ich schon oft besucht hatte, und ich hatte eine gewisse Vorstellung davon. Zufällig sah ich die offene Ausschreibung des Folkwang Institut für Pop-Musik und bewarb mich. Sie nahmen mich an und ich zog 2017 von Istanbul nach Bochum. Als ich nach Bochum zog, hatte ich keine Ahnung von Köln, aber nachdem ich ein Jahr lang in Bochum gelebt hatte, fand ich mich in Köln wieder und lebe jetzt seit fast fünf Jahren hier.

Musikalische Bezugspunkte sind Aphex Twin, Bill Evans, Gustav Mahler, Radiohead, Vaqif Mustafazade und Charles Mingus. Diese Liste ließe sich fortsetzen.  

Ozan Tekin

»Anarya« bedeutet »rückwärts wandern«, wenn ich es richtig verstehe. Was bedeutet es für Dich im Allgemeinen? Was ist damit gemeint? 

Es gibt mehrere Gründe, warum ich das Album »Anarya« genannt habe.  Das Klavier, auf dem ich die Aufnahmen für »Anarya« gemacht habe, war ein sehr altes und kaputtes Klavier, das ich in meinem Studio mit viel Zeitaufwand reparieren musste. Die Pflege und das Spielen dieses Klaviers waren ziemlich anstrengend und inspirierend zugleich. Ich musste daran denken, dass ich mich um eine sehr alte Person kümmere, die bald sterben wird, und ich versuche, ihr in ihren letzten Tagen etwas Trost zu spenden. Je mehr Zeit ich mit dieser Person verbrachte, desto mehr erinnerte sie sich und ließ ihre Erinnerungen ein letztes Mal aufleben. Nachdem ich einige Monate mit diesem Klavier verbracht hatte, wurde mir jedoch klar, dass ich, je mehr ich Klavier spiele, auch einige Erinnerungen oder Gefühle aus meiner Vergangenheit wieder aufleben lasse. Dann wollte ich all diese Erinnerungen und Gefühle mit der transponierten Erzählung in »Anarya« zusammenbringen, die eine Geschichte über eine Rückwärtswanderung erzählt.

Und was hat das für Sie auf musikalischer Ebene bedeutet?

Nach vielen Jahren des Produzierens in verschiedenen Musikgenres ist es für mich sehr reinigend und therapeutisch, mich auf ein einziges Instrument zu konzentrieren, ein Klavier, das Instrument, mit dem ich angefangen habe, Musik zu machen, und nur damit Musik zu produzieren. Ehrlich gesagt stand es vor der Pandemie nicht auf meiner Agenda, ein solches Klavier-Album zu machen, aber die Umstände bestimmten meine Art zu produzieren. Ich bin froh, nach Jahren zu dem Instrument zurückzukehren, mit dem ich ursprünglich Musik gelernt habe, und mit ihm einen musikalischen Ausdruck und eine Erzählung zu schaffen, die intensiv, impulsiv und lehrreich sein konnten.

Gab es Idiome – zum Beispiel solche, die als »orientalisch« und »abendländisch« bezeichnet werden -, die Du umgehen wolltest? 

Ja, natürlich. Ich finde diese Begriffe in der heutigen Zeit in vielen Fällen ziemlich unzureichend und begrenzt. Als Künstler kann man sich sowohl von seinem Land und seiner Kultur inspirieren lassen als auch von irgendwo oder etwas anderem. Deshalb glaube ich nicht, dass Kunst unbedingt mit einem »Land« verbunden sein sollte, das man dann sofort als orientalisch oder abendländisch abstempelt.

Wie hast Du die musikalische Sprache der Platte gefunden?

Anarya hinterfragt vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit, und ich glaube, das spiegelt sich auch in der Musiksprache wider. Die Mischung aus vielen Genres, Zeiten und Orten, die für mich inspirierend sind, definiert die musikalische Erzählung des Albums, die kaum einem einzigen Ort zuzuordnen ist.

Was waren deine musikalischen Vorbilder oder Bezugspunkte für das Album?

Aphex Twin, Bill Evans, Gustav Mahler, Radiohead, Vaqif Mustafazade und Charles Mingus. Diese Liste ließe sich fortsetzen.  

Du hast das Album mit einem alten Klavier aufgenommen, das für die Platte eine besondere Bedeutung hat. Was bedeutet es für dich in King Georg, auf einem anderen Instrument zu spielen?

Jedes Klavier klingt und fühlt sich natürlich anders an, und ich weiß, dass es unmöglich ist, auf dem Album denselben Klang zu erzielen, den ich bei den Konzerten mit diesem alten Klavier aufgenommen habe. Ich nehme jedoch an jedem Klavier meine eigenen Modifikationen vor, die mir dabei helfen, dass die Klaviere, die ich in den Konzerten spiele, näher an dem Klang liegen, den ich für das Album aufgenommen habe. Es wird mein erstes Konzert mit einem Flügel im King Georg sein, deshalb bin ich sehr gespannt und freue mich darauf.

Interview: Lars Fleischmann, Foto: Lucie Ella

Ein Gespräch mit dem Komponisten, Songwriter und Popstar Albrecht Schrader.

Albrecht Schrader

Albrecht Schrader ist ehemaliger (Co-)Leiter des Rundfunk Tanzorchesters Ehrenfeld – bekannt aus Funk und Fernsehen –und damals zu seiner Zeit in Köln war er ein mehr als gern gesehener Gast im King Georg. Vor allem ist er aber ein grandioser Alleinunterhalter alter Schule, der wie die anderen Hamburger Größen (Carsten Erobique Meyer oder Rocko Schamoni) viel Bock auf Musik hat und auf verdammt gut gemachte Unterhaltung setzt. Wie eine Mischung aus Hans Albers und Hildegard Knef textet und singt er auch auf »Soft«, seinem dritten Solo-Album.
Am Rande seines exklusiven Auftritts im King Georg (sonst konnte man ihn vorerst nur in der Heimat und der Bundeshauptstadt erhaschen) führten wir dieses Interview.

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Seit deinem letzten Konzert, 2019, ist es das erste Mal, dass du wieder in Köln ein Konzert gibst – ganz schön lang eingedenk der Tatsache, dass du hier fast 15 Jahre gewohnt hast. Nehmen wir diesen Tag zum Anlass darüber zu reden, was dich damals nach Köln verschlagen hat.

Ich bin 2005 aus Berlin – nach einem echt doofen Jahr dort – nach Köln zum Studieren gekommen. Ich hatte in Berlin bei ein paar Pop-Sachen mitgespielt; aus denen wurde aber nichts. Und ich wollte dann weg. Köln wurde es dann eigentlich eher aus Verlegenheit: Der Numerus Clausus passte. Obwohl ich niemanden kannte, schien mir das eine bessere Wahl als Hamburg, wo ich einfach nicht studieren wollte. Ich bin dort in den Elbvororten groß geworden und wollte damals einfach nicht mehr zurück, sondern nur weg. 

Wenn du Elbvororte sagst, dann muss man das aus Köln wo genau verorten?

Die psychosozialen Elbvororte beginnen hinter Bahrenfeld. Dann kommen hauptsächlich Ein-Familien-Häuser.

Du hast in Köln Musikwissenschaften, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Klassische Literatur auf Magister studiert. Da sieht man – nun mal abgesehen von der Klassischen Literatur – immer noch Kontinuitäten in deinem Leben. Dazu kommen wir gleich. Wir müssen vorher noch erörtern, wie es dich dann auf die Bühne verschlagen hat. Vielen wurdest du in der Kölner Szene durch deine »Galerie Decadence«-Abende in der Baustelle Kalk bekannt.

Das war damals eine Fortführung der »Galanacht der Langeweile«, die auch schon in der Baustelle stattgefunden hatte. 2013 war das eine, offen gestanden stark von Studio Braun-Abenden beeinflusste, Schnapsidee, die ich auf die Beine gestellt habe, während ich noch für meine Magisterprüfung gelernt habe. Diese Paukerei fand ich furchtbar frustrierend und empörend; und aus Wut und Langeweile habe ich diesen Abend mit zwei, drei Ideen entworfen.

Der Ort, an dem wir hier gerade sitzen, hatte auch seinen Anteil, oder?

Ja, genau. Ich war vorher im King Georg zu Gast gewesen und hatte mit der Filmemacherin Nicole Wegener, die damals den Do It Yourself-Kulturort Baustelle Kalk gemacht hat,  gesprochen. Ich erzählte ihr von dieser Idee und wider Erwarten war sie total begeistert. Sie hat sich dann mit ihrer Baustellen-Partnerin Meryem Erkus abgesprochen – und wir haben dann diesen unglaublich lustigen, improvisierten Abend auf die Beine gestellt. Das wollten wir aber nicht einfach wiederholen und haben stattdessen eine Reihe daraus gemacht: Die Galerie Decadence.

Wie meintest du damals das Wort Decadence? Bezog sich das auf dekadente Bonzen oder eher auf das Baudelaire’sche Wort von der Niedergangsgesellschaft, die den Rausch der Moderne vorhergesehen hat: Also irgendwo zwischen Stimmung und Morbidität?

Ich sag es mal so: Ich komme aus der Hafen- und Kaufmannstadt Hamburg. Diese Stadt lebt immer noch von den Widersätzen. Ich habe Bilder im Kopf von der Fahrt mit dem elterlichen Mercedes, wo man noch die Türen verriegelt hat, wenn man über die Reeperbahn gefahren ist. 
In der »Szene« äußert sich das eher dandyhaft: Man geht im Vintage-Anzug, schick gemacht, in irgendeinen runtergekommen, ranzigen Laden. Diese Gegensätze mag ich bis heute gerne – und diese beiden Pole waren dann auch die Grundidee für die Reihe.

Kann man bestimmte Aspekte deines neuen Albums »Soft« ebenfalls in diese Richtung deuten? Dort hat man häufig das Gefühl, dass du ein Milieu abbildest, das zwischen High (»Cardigan of Love«) und Depression (»Donnerstags 8 bis 9«) lebt und nicht ganz damit zufrieden ist, wie die Welt eingerichtet ist.

Ich sehe mich nicht in der Lage, das große politische Lied zu schreiben. Was mich bewegt, schreibe ich von daher eher im Kleinen, von mir aus. Meine Herangehensweise für meine Musik ist, dass ich textlich versuche möglichst klein zu bleiben und das Große über die Musik zu erzählen oder zu lösen. Ich habe dafür einen musikalischen Paten gefunden: Den hervorragenden (Broadway-)Komponisten Steven Sondheim, der vor ein paar Monaten leider gestorben ist. Er war ein Meister darin, die großen Themen nur erahnen und dem Publikum durch kleine, präzise Songtexte genug Raum für ihre eigene Emotionalität zu lassen.

»Soft« ist ein besonderes Album, da es fast anachronistisch in seinem Aufbau ist. Ich will jetzt nicht sagen, dass es in dem Sinne ein Konzeptalbum ist, aber es erinnert sehr an die große Zeit des Pop-Songs in den 1970er Jahren. Man hat viele Balladen, dazwischen Up-Tempo-Nummern und dann die opulenten Werke. Da hört man klassische LPs der Carpenters, Burt Bacharach oder des frühen Scott Walker raus, oder?

Die genannten höre ich sehr gerne und die haben mich ganz bestimmt beeinflusst. Ich würde dennoch nicht sagen, dass das ein »Masterplan« ist oder war. Mir passiert es schlicht und ergreifend in 60-70% der Fälle, dass ich eine Ballade schreibe.
Das Album davor, »Diese Eine Stelle«, das war mit seiner klaren Themensetzung »Herkunftsscham« stärker an ein Konzept angelehnt. Das hat Spaß gemacht, aber war nun mal auserzählt. Diesmal hatte ich einige Lieder geschrieben und eher unterbewusst ist dann »Soft« dabei rausgekommen.

Kommen wir aber nochmal zu deinem Werdegang zurück: Wie hatte sich dein Gig beim Rundfunk Tanzorchester, der Böhmermann’schen Haus- und Showband, mit dem du deutschlandweit bekannt wurdest, ergeben?

Jakob Weiss, der bei der »Galanacht« gefilmt hat, aber sonst bei der Fernsehproduktionsfirma Bild- und Tonfabrik arbeitete, schlug mir vor, dass ich mal zu einem Casting für eine Ensemble-Comedy-Show gehe. Beim Casting selbst war es ein wenig unangenehm, weil ich ja auch kein Schauspieler bin … dennoch hat sich dann daraus ergeben, dass ich mit Jan Böhmermann zusammen Lieder geschrieben habe. Er schrieb die Texte und ich die Musik.

Der Rest ist Geschichte: Das Rundfunk Tanzorchester Ehrendfeld sollte schnell nach seiner Einführung schon ikonischen Status mit seinen Neu-Interpretationen erreichen. Du hast das für eine 15-Personen-Big-Band arrangiert …

Ich und Lorenz Rohde, mit dem ich die Arrangements realisiert habe, haben uns da gut ergänzt. Wir haben zwar beide nie »Arrangement« gelernt, aber wir haben das einfach gemacht. Unsere Interessen – bei ihm Funk und Soul, bei mir eher jemand wie Scott Walker halt – passten perfekt zusammen.

Ihr wurdet durch YouTube mit euren Interpretationen bekannt – durch den ein oder anderen Coup in der Sendung natürlich auch der ganze Komplex –, und dann hast du 2019 aufgehört mit diesem »Traumjob«. Von außen war es eigentlich ein Schock.

Ich hatte schon im Sommer 2018 entschieden aufzuhören. Das wurde nach und nach körperlich und psychisch sehr anstrengend – und ich kam nicht mehr dazu meine eigene Musik zu schreiben und zu spielen. Ich habe dann noch die Tour im Februar 2019 mitgenommen und dann schweren Herzens aufgehört.

Und dann kam auch der Wegzug aus Köln, Richtung Heimat Hamburg …

Das war gar nicht geplant. Ich wollte eigentlich noch in Köln bleiben, erfuhr dann aber, dass neue Räume für Musiker*innen in Hamburg entstehen – und ich wollte endlich mal einen richtigen Musikraum zum Arbeiten. Den hatte ich nämlich in Köln nie. Und dann bin ich bereits im Herbst 2019 zurückgezogen.

Kein halbes Jahr später kam die Corona-Pandemie … was hat das mit dir gemacht?

Das war, gelinde gesagt, doof. Ich hatte das Album »Diese Eine Stelle« noch in Köln fertig produziert und wollte in Hamburg ankommen, ausgehen, Menschen und die Szene kennen lernen – und dann war alles dicht. Am Tage der Lockdown-Verkündung kam das Master meines Albums an; was macht man da?

Wir haben dann kurzerhand das Album-Release in den Sommer vorverlegt. Es wusste ja keiner, wie sich die Musik-Industrie entwickelt, was noch alles passiert. Und wir dachten, dass es keinen Sinn ergibt, dann damit zu warten, sondern sagten »Jetzt erst recht«.

Hat diese Zeit der Entsagung die Grundstimmung auf »Soft« geprägt? Du singst viel über Verletzlichkeit.

Das ist eine gute Frage. Die ersten Songs, die entstanden sind, waren über Menschen, die ich wegen Corona nicht mehr so oft oder gar nicht sehen konnte. So ging die Arbeit los. Und das Thema »Verletzlichkeit«, das wollte ich schon länger anpacken: persönlich und als Musiker. Aber das war lange nicht en vogue, hatte ich das Gefühl. Derzeit und in den letzten Jahren gibt es eine neue Offenheit gegenüber solchen Themen. Da bin ich sehr dankbar.

Das muss künstlerisch dennoch passen; das wurde mir schnell klar. Kunst ist keine Bekenntnisplattform. Aber: Das Wort »Psychotherapie« singen zu können, ohne gleich in totaler Befindlichkeit zu landen, das fand ich sehr großartig.

Interview: Lars Fleischmann.

Der 70-jährige französische Komponist und Multiinstrumentalist Pierre Bastien kommt am 27. Januar mit seinen Maschinen ins King Georg.

Pierre Bastien

Die 1980er markieren den endgültigen Durchbruch der Maschinen-Musik. Damals wurden Synthesizer, Drum-Machines und Sampler unweigerlich zu gleichberechtigten Tools im Repertoire der Musiker*innen – die Hip-Hop- und Electro-Sounds des Samplers Akai MPC waren genauso gültig wie jene einer Gitarre und die Grooveboxen von Roland (808 und 909), sowie der Bass-Synthesizer 303 sollten unmittelbar an der Techno-Revolution beteiligt sein.
Heute hat man sich an allerlei gewöhnt: Manchmal steht nicht mehr als bloß ein Laptop auf einer Bühne und wenn ein*e DJ eine Plattentasche statt USB-Sticks anschleppt, dann hat das mindestens Seltenheitswert.
Das kann man unstylisch oder unsexy finden, vielleicht sogar albern; andere wiederum sehen in der fortgesetzten Weiterentwicklung und Synthetisierung musikalischer Quellen die normale Progressivität menschlicher Kultur. Für Pierre Bastien, so scheint es zumindest, sind solcherlei Diskussionen sowieso nebensächlich. Der französische Komponist, Musiker und Bastler hat sich bereits im Jahr 1976 davon verabschiedet das eine (die reale Soundquelle) gegen das andere (das synthetisch-elektronisch-digitale Instrument) auszuspielen: Im Sommer des Jahres entstand seine erste Klangskulptur. Seitdem baut Bastien kontinuierlich an einem mechanischen Orchester aus Maschinen. In Anlehnung an den Schriftsteller Karel Čapek nennen wir solche Erfindungen Roboter – auch wenn keine der Bastien’schen Basteleien, aus den Einzelteilen der englischen Miniatur-Firma Meccano, den Eindruck eines C-3PO oder des Terminators erweckt.


Vielmehr sind viele seiner »Musiker«, wie er die Maschinen nennt, einfache Kreationen aus wenigen Bauteilen und zwei, drei Motoren. Sie sind trotzdem mehr als bloß zweckdienlich: Ihre Klangerzeugung – Kämme werden geschrubbt, Hämmer geklopft – ist zirkular. Das Ergebnis: Ein Orchester voller Wiederholungen; man könnte auch Loops sagen. Die Schleifen nutzt Bastien dann um Kurzkompositionen und Vignetten aufzubauen. Kleinere Übungen, hochinteressante Einheiten von wenigen Minuten Länge.
Während er sein »Mecanium« genanntes Orchester aufbaut, spielt er als Multi-Instrumentalist auch in herkömmlichen Bands. Er steigt beim Bel Canto Orchestra des französisch-katalanischen Komponisten Pascal Comelade (selbst eine Legende der Post-Strukturalisten und Avantgarde-Jazzer) ein; ganz ohne seine Maschinchen, dafür mit seiner Piccolo-Trompete oder auch mal am Kontrabass. 

Auf der Aufnahme zu »Moments Du Bruits Pendant Le Naufrage« spielt er wiederum ein Plastik-Saxofon und das Cello. Im Bandgefüge des ebenso experimentell wirkenden Comelade kann sich Bastien austoben und -probieren. Vorher noch gründet er mit Bernard Pruvost die ebenso legendäre Band Nu Creative Methods.
Der Durchbruch in europäischen Avantgarde-Kreisen folgt derweil erst 1988, als sein erstes Solo-Album – wenn man hinsichtlich seiner Roboter überhaupt von solo reden kann – »Mecanium« erscheint. Zu dieser Zeit entwickelt er seine Live-Spielhaltung, die auch heute den »Ton angibt«: Hinter einem Tisch, der vollgepackt ist mit allerlei Maschinen, sitzt Bastien und spielt Trompete. Auch hier beherrschen Kurzformate die Szenerie, wenngleich unter Fans gerade seine längeren Stücke besonders beliebt sind. Im Zusammenspiel zwischen sukzessiven Loops und freiem Trompetenspiel entstehen Trance- und Traum-hafte Sequenzen voller schlichter Tiefe.

Die einzige wirkliche Gefahr für die Musik des Franzosen, der mit seinen 70 Jahren immer noch eine stets neue Hörer*innenschaft begeistert, besteht in steigenden Stromkosten.

In Deutschland wird Pierre Bastien besonders bekannt als er 1996 und 1997 mit Jaki Liebezeit – dem legendären Drummer der Kölner Krautrock-Band CAN – in die Manege steigt. »Ich habe Jaki vor besondere Aufgaben gestellt, als ich zwar vorschlug, dass wir auf Basis eines 12-Takt-Loops improvisieren sollten, meine Maschinen aber 12-1/2-Takte brauchten«, erzählte er vor Jahren der englischen Zeitung The Guardian.

Das Eigenleben der Maschinen ist gleichsam ihre größte Stärke: Unbeeindruckt von Software-Updates oder manueller Bedingung spielen diese Maschinen auch dann noch, wenn Computer-Viren die Welt längst lahmgelegt haben sollten. Die einzige wirkliche Gefahr für die Musik des Franzosen, der mit seinen 70 Jahren immer noch eine stets neue Hörer*innenschaft begeistert, besteht in steigenden Stromkosten. Die könnten der Musik den sprichwörtlichen Stecker ziehen … obgleich Bastien dann trotzdem immer noch etliche Instrumente spielen kann und genug Erfinder- und Bastlergeist hat, um ad hoc zu improvisieren.

Gleichsam soll nicht der Eindruck Bastien hätte sich seit den Achtziger und Neunziger Jahren nicht weiterentwickelt. So produktiv wie noch nie, veröffentlichte und erschien er auf ingesamt elf Platten in den letzten fünf Jahren. Namhafte Labels wie Other People (des hippen New Yorker Produzenten Nicolas Jaar) und Discrepant releasten seine Stücke; ebenso das Label des Brüsseler Kulturortes Les Ateliers Claus, Les Albums Claus.
Bastiens Karriere läuft und läuft und läuft; fast so, als wäre er selbst … eine Maschine.

Text: Lars Fleischmann

Der Bildende Künstler und Musiker Camillo Grewe spielt am 13. Januar in der King Georg Klubbar sein erstes Solo-Konzert.

Camillo Grewe

Camillo Grewe treffen wir an einem herbstlichen Nachmittag im Winter zu einem Tee, da er dieser Tage ein Konzert im King Georg spielt. Betont sei: Es ist sogar sein allererstes Solo-Konzert. Bis dato kennt man den 1988 geborenen Grewe vor allem als Bildenden Künstler, der bereits Erfolge – wie zum Beispiel das Friedrich-Vordemberge-Stipendium der Stadt Köln – verzeichnen konnte.
Nebenher gab es derweil immer auch musikalischen Output. Diese zwei »kreativen Kanäle« sind seit der Kindheit angelegt. »Ich habe seitdem ich sieben oder acht Jahre alt war Klavierunterricht gehabt«, resümiert er heute, »und gleichzeitig auch immer gemalt und gezeichnet. Es gab immer beides.«
Später dann, zu Oberstufenzeiten, entschied er sich einstweilen für die Karriere als Künstler: »Ich nahm damals Abstand vom Klavier.«

Besondere Klänge

KlängeDas Handtuch wollte Grewe dennoch nicht werfen. Eine CD des Jazz- und Rockgitarristen John McLaughlin, die er seinem Bruder geschenkt hatte, wies ihm einen neuen Weg. Schon länger hatte ihm sein Klavierlehrer geraten, sich doch den Percussions und dem Schlagzeug zu widmen – McLaughlins Ausflüge in die klassische indische Musik war nun ein willkommener Anlass. »Das war eine Platte mit Zakir Hussain – einem bekannten Tabla-Spieler«. Das Projekt hieß Shakti, und Grewe war vom Sound der traditionellen, nordindischen Trommel angetan. »Ich fand diese Musik superspannend. Ich habe dann gesehen, dass es auch einen Tabla-Lehrer in Münster gab, wo ich damals gewohnt habe. Ich habe fünf Jahre Unterricht gehabt«, erzählt er und erklärt als nächstes die besondere Spielweise: »Die einzelnen Schläge werden lautbildlich gesprochen – eine eigene Erfahrung.« Diese Bols, wie sie heißen, werden entweder beim Spielen oder statt des Spielens auf der Tabla angestimmt: tun na dha ti dha ge dhin na
Auch heute interessiert er sich für Instrumente, die einen eigenen Klang besitzen und meist übersehen werden. Gerade auch sogenannte »Kinderinstrumente« (wie Melodica, Blockflöte oder Glockenspiel) tauchen in seiner Musik immer wieder auf. Das gilt auch für das Konzert im King Georg.
Doch weiter will er sich nicht in die Karten blicken lassen: »Die Leute sollen unvoreingenommen das Konzert besuchen. So viel sei nur gesagt: Es wird vielleicht klassischer beginnen und dann einen Transformationsprozess durchlaufen.«

Konzerte sind für Camillo Grewe keine Neuheit. Gerade mit seiner Band Fragil tritt er seit 2011 regelmäßig live auf. Damals habe man sich auf Anraten des Düsseldorfer Künstlers Alex Wissel zur Band zusammengetan. Wissel, der heute sehr gefragt ist und unter anderem durch seine Arbeiten mit dem Düsseldorfer Regisseur Jan Bonny auch einem Mainstream-Publikum bekannt wurde, hatte damals seine »Single-Club«-Reihe ins Leben gerufen: 24 Stunden währende Happenings zwischen Performance, DJ-Sets, Konzerten von Laien, Amateuren und Profis – sowie jede Menge Wahnsinn. Fragil wurde zur »Hausband« dieses ausladenden Spektakels.

So viel man damals spielte – fast monatlich – , so sehr machte man sich auf Platte rar. Das gilt bis heute. Gerade mal drei Platten sind in über zehn Jahren entstanden. Das bisher letzte Album »Hallo Ich« ist produktionstechnisch am ambitioniertesten, professionellsten und bietet einen Post-Kraut-Indie-Pop-Sound entsprechender Güte. Genauso eigen, dafür eher Lo-Fi sind die Stücke des letzten Albums „Motivation“. Allen Songs gemein: Man kann und darf sie gerne als „artschooly“ im besten Sinne bezeichnen. Kein Zufall eingedenk der Tatsache, dass alle Beteiligten tatsächlich an einer Kunstakademie studiert haben.

Eine eigene Notation

Auch beim Konzert könnten Fragil-Songs gespielt werden – nur diesmal alleine: »Es war spannend, das erste Mal solo an den Stücken zu arbeiten. Die Arbeit in einer Band ist manchmal nervenaufreibend. Es dauert natürlich länger, bis ein Song entsteht und fertig ist. Diesmal hat es sich eher angefühlt wie die Arbeit im Atelier als Künstler.«
Fragil sei für ihn eine Sache der Attitude: »Ich spiele da ein paar Akkorde und dazu zwei, drei Töne. Alles minimal, was die Komposition angeht. Ich liebe es, klare Melodien aus wenigen Tönen zu behaupten.« Dieser Gitarren-Indie-Sound wird von der Band selbst liebevoll als »Proseccopunk« bezeichnet. Irgendwie widerständig, leicht krawallig, in der Lage, mit wenigen Akkorden nachhaltig Eindruck zu machen, aber eben keine Bande von »Schreihälsen«.

Darüber hinaus gibt es vielfältige musikalische Ausflüge: Für die Oper »Cupid and the animals« von Agnes Scherer, die von der New Yorker Galerie TRAMPS in Auftrag gegeben wurde, hat Grewe die Musik komponiert. »Klavier, 2 Blockflöten, 3 Sänger, 2 Flamencotänzer und ein Dudelsack – dafür habe ich mir eine eigene Notation ausgedacht, da ich selber nicht besonders gut beziehungsweise flink im Notieren bin. Die sehr bildhafte, zeichnerische Notation habe ich den Musikern (in dem Fall vor allem den Blockflötistinnen) erklärt.« Die Oper wurde in Folge sowohl im BAM (Brooklyn Academy of Music) in New York, als auch im Museum Ludwig in Köln aufgeführt.

Ebenso ambitioniert war das musikalische Projekt »Konzert für 13 Vögel«, das Grewe auf Einladung der Gruppe Hall & Rauch mitkomponierte. Heute heißt die Komposition »Psychoreo«. An der historischen Grenze zur Corona-Pandemie entstanden, wurde das Konzert erstmals in der Philharmonie im Jahr 2021 aufgeführt: »Als das Konzert Corona-bedingt um ein Jahr verschoben wurde, entschieden wir das Ensemble um ein Streicherquartett zu erweitern. Daraufhin schrieb ich über ein 3/4-Jahr gemeinsam mit Malte Priess (Gitarrist der Band) die Streichersätze für die Songs.«
Im King Georg sollen, das verrät Grewe zum Ende dann doch, all diese verschiedenen Projekte und Bands und Songs kumulieren: »Ich habe für das Konzert alte und neue Songs zusammengebracht. Für Leute, die meine Musik kennen, wird es ungewohnt düster und persönlich.«

Text: Lars Fleischmann

Gründer Samy Ben Redjeb und sein Label Analog Africa graben seit Jahren Musik vom afrikanischen Kontinent aus – und erforschen darüber hinaus transkontinentale Spuren.

Samy Ben Redjeb

Nach fünf Jahren haben sich Musiklabels etabliert, nach zehn Jahren werden sie zu Institutionen und nach 15 Jahren bietet sich das Wort »Legende« an. Und am Anfang jeder guten Legende steht ein Held – jemand, der sich gegen Widerstände durchzusetzen hat.
Beim Label Analog Africa heißt dieser Held Samy Ben Redjeb und seine Geschichte beginnt als Teilzeit-DJ. Damals, wir reden um eine Zeit rund um das Jahr 2000, sammelte Redjeb Platten, legte auf, es wollte aber nicht reichen. Also suchte er sich einen Teilzeitjob und arbeitete als Tauchlehrer. Irgendwann verschlug es ihn in dieser Funktion in den Senegal. 

Dort, genauer in Dakar, fiel ihm eine Platte aus Simbabwe in die Hand – spontan entschließt er sich dieser Platte nachzuforschen. Er fliegt nach Harare. Was folgt ist die Geburtsstunde des Labels »Analog Africa«. Die Entscheidung für ein Label mit den Entdeckungen, die fiel wohl relativ schnell: The Green Arrows und die Hallelujah Chicken Run Band – zwei Bands aus dem südafrikanischen Land landen auf CDs. Der Erfolg blieb aber aus.

Aufklärung durch Labelarbeit

Warum die Songs aus Simbabwe beim Publikum anfänglich durchfielen, das lässt sich heute nur noch schwerlich erörtern. Das hat zwei Gründe. Tatsächlich gibt es verhältnismäßig wenig Berichte und Reviews aus der Zeit zu den frühen Aktivitäten von Analog Africa. Außerdem hören wir heutzutage anders in Musik des afrikanischen Kontinents rein. Daran hat Redjeb und sein Label großen Anteil – zusammen mit dem Musik-Ethnologen Brian Shimkovitz (»Awesome Tapes From Africa«) hat er unser Verständnis für Musik aus Mali, Kamerun und eben Simbabwe überhaupt erst ausgegraben, geformt, aufgeklärt und zur Diskussion gestellt.

Früher war alles Weltmusik

Wir denken zurück: Bis Mitte der Nullerjahre war Musik aus Afrika – und da reden wir wirklich über den ganzen Kontinent und nicht als illegitime Generalisierung – subsumiert im Genre »Weltmusik«. Afrikanische Künstler*innen von Weltrang konnte man an einer Hand abzählen: Miriam Makeba oder Hugh Masekela kannten die Aufgeklärteren, bei Mulatu Astatke und Fela Kuti wurde es schon eng. Erst mit Redjeb und Shimkovitz hat sich eine Offenheit hierzulande und im gesamten europäischen und nordamerikanischen Raum eingestellt. Künstler*innen und ganze musikalische Genre, die heute zum Inventar gehören, haben hier ihren Ursprung.

Aber zurück zur Geschichte und den konkreten Umständen beim Label aus Frankfurt: Schon 2008 sollte der Durchbruch nämlich anstehen. Zwischendrin stieß Redjeb bei einem Halt in Benin nämlich auf einen wahrhaftigen Schatz. Er hatte mittlerweile als Flugbegleiter der Deutschen Lufthansa angeheuert, was einen enormen Vorteil mit sich brachte: Er sah die Welt. Und wer die Möglichkeiten nutzt und die nötige Prise Glück auf seiner Seite hat, der macht vielleicht eine folgenschwere Entdeckung. 
Regelmäßig flog er Ziele an der Goldküste im westlichen Afrika an: Ghana, Nigeria, Kamerun etc. – und dort traf er immer wieder auf obskure Musik, die ungehört schien, unbekannt sogar. Im Benin stieß er dann auf jene Plattenkisten, die später zu den Veröffentlichungen »African Scream Contest«, »Legends Of Benin«, »Orchestre Poly-Rythmo De Cotonou – Echos Hypnotiques« werden sollten. Die Kritiker*innen waren hin und weg – diese Musik, irgendwo zwischen Volksmusik, Schlager und Trance-Ritual, schlug ein, wie eine Bombe, wirkte ganz neu und ungemein faszinierend.

Vollends seinen internationalen Durchbruch feierte das Label dann jedoch erst mit der »Afro-Beat Airways«-Reihe. »West African Shock Waves« war etwas konventioneller als die Vorgänger-Platten, traf umso mehr den Zeitgeist und steht heute nicht nur bei sogenannten Nerds, sondern selbst bei Saturn im Plattenregal.

Die Welt ist viele Scheiben

Fortan war Analog Africa nicht nur ein kleines, krudes Label, sondern wurde zu einer Maschine. Mittlerweile zählt man 95 vollwertige Veröffentlichungen. Bevor man dann mit der Nummer 100 sein großes Jubiläum feiert, besucht das Label am 17. September noch das King Georg

Man kann wohl eine kunterbunte Abfahrt erwarten, hat das Label nicht nur den Riesenkontinent vermessen und immer wieder spannendes, emotionales, sondern meist sehr Tanzbares ausgegraben. Und der Atlantik wurde auch bereits gekreuzt, um transkontinentale Spuren zu erforschen.

Deswegen nochmal zum »Vorglühen«, wie man heute so sagt, der Lieblingssong des Autoren in Videoform:

Text: Lars Fleischmann.

Vielleicht ist traumwandlerisch die beste Beschreibung für die Musik von C.A.R. Ähnlichkeiten mit legendären Bands der Popgeschichte sieht man durchaus selbst – aber sehr gelassen.

C.A.R.

Manchmal sind die Ähnlichkeiten so frappierend, dass man gar nicht mehr weiter darüber nachdenkt, ob es überhaupt welche sind.
Wer die Monumentalband des deutschen Krauts, CAN, im Hinterkopf hat, der wird ohne Frage leicht Verbindungen zur Kölner (und Berliner) Projekt C.A.R. ziehen können. CAN – CAR.

C.A.R. sind dennoch nicht bloß Apologeten des besten Kölner Exportprodukts, seit Johann Maria Farina das Kölnisch Wasser erfunden hat. Das wäre auch gar nicht möglich, wie Johannes Klingebiel, Drummer und verantwortlich für die meisten Tracks der Band, sagt: »Wir wollen und können das gar nicht reproduzieren, was CAN damals gespielt haben. Ich bin zum Beispiel ein ganz anderer Typ Drummer als es Jaki Liebezeit war. Selbst wenn ich wollte, würde etwas unterschiedliches entstehen.«
Ganz klar: C.A.R. sind eine Band, die einen eigenen Sound hat, ein eigenes Gefühl für Timing und Atmosphäre – und daran in den elf Jahren ihres Bestehens auch kontinuierlich gearbeitet hat. Wobei sich in den luftigen Settings und transparenten Tracks sich nur ganz bedingt etwas wie »Arbeit« anhört. Gerade auf ihrem letztjährigen Neuling »Any Percent« geht der Band der eigene Sound so locker aus den Fingern, dass sie selbst in traumhafte Gründe abrutscht.
Kein Wunder also, dass man gerade erst beim Achtbrücken-Festival ein Programm spielte, das sich mit den Bewusstseinszuständen im Prozess des Einschlafens auseinandergesetzt hat.

»Am Anfang war alles sehr wild. Laut, verzerrt, schnell … viele Effekte«

Vielleicht ist »traumwandlerisch« auch die beste Vokabel, um die Musik zu beschreiben, die C.A.R. spielen. Andere Genrebezeichnungen können durchaus passen – die Bezüge zu Kraut und Jazz sind offensichtlich -, dennoch haben sie einen charakteristischen Sound entwickelt, der sich nur schwer einengen lässt. Es gibt starke Verbindungen hin zu Soundtrack-Klängen, zu melancholischem Indie-Jazz, sogar zu den (atmo-)spärischen Stücken von Bohren & der Club of Gore und anderer Doom-Jazz-Bands.

Warum sie so wesensgemäß klingen, hat auch mit ihrer Geschichte als Band und Musikern zu tun: Alle vier Mitglieder, neben Johannes Klingebiel sind das Leonhard Huhn (sax), Christian Lorenzen (keys) und Kenn Hartwig (bass), studierten einst gemeinsam an der Hochschule für Musik und Tanz. Pünktlich zum Diplomkonzert des Drummers Klingebiel und des Bassisten Hartwig gründete man die Combo. Klingebiel erinnert sich: »Wir kannten uns alle aus dem Studium, da man auf Grund des kleinen Jazz-Studiengangs eh einen Überblick hat mit wem man studiert. Und auch weiß, mit wem man klickt und mit wem nicht.« So habe sich die Band nach dem Konzert auch nicht aufgelöst, sondern einfach weitergemacht. »Am Anfang war alles sehr wild. Laut, verzerrt, schnell, viele Effekte“, erzählt er weiter, „das hat sich aber nach und nach gewandelt zu dem Sound, den wir heute machen.

C.A.R. live im King Georg, 2020, Teil 1


Wer nun eine der fünf erhältlichen Platten auflegt, oder ein Konzert besucht, der erlebt etwas anderes.  Jazz sticht manchmal durch, obwohl man, wie Huhn klarstellt, »mittlerweile sehr weit weg ist von der Idee: Da ist ein Jazz-Quartett und das spielt nun ein Konzert!« Vielmehr habe sich über die Ablehnung der Diktate aus dem Studium, die sie stets genervt hätten, ein eher intuitiver Entwurf herauskristallisiert. Statt der Band, die den Grund legt und den Solis, die »darüber genagelt werden« (Klingebiel), spiele man jetzt in einem anderen, gemeinsamen Jam, wo jeder Bandgefüge sei und sein eigenes Ding spielen könne. So entstehe etwas anderes.

Dieses andere ähnelt dann eben den Ahnen von CAN. Leonhard Huhn sieht die Parallelen – aber gelassen: »Irmin Schmidt und Holger Czukay von CAN haben auch in Köln studiert – bei Karlheinz Stockhausen. Und dann mit ihrem Wissen aus dem Studium wiederum einen anderen Sound spielen wollen.« Man komme auch nach fast 60 Jahren, die dazwischen liegen, zu ähnlichen Ergebnissen. Das sei vielleicht der Gang der Dinge, der sich eben mit einigem Abstand wiederhole.

C.A.R. live im King Georg, 2020, Teil 2

Was aber unverkennbar an der neuen Kölner Traditionslinie sei: Die Errungenschaften elektronischer Musik sind wie selbstverständlich inkorporiert. Gerade Klingebiel, der auch als DJ, Produzent und Labelmacher auftritt, besitzt ein Wissen und Gefühl für Synthesizer-Settings und -Sounds, für aktuelle Entwicklungen und Verknüpfungen – wie man sie zum Beispiel auch von international sehr erfolgreichen Combos wie dem Portico Quartett oder Go Go Penguin kenne. Oder eben erst aus dem letzten Jahr als die Saxophon-Legende Pharoah Sanders mit dem englischen Elektro-Tüftler Floating Points eine viel gefeierte und prämierte LP ablieferte.

Bei C.A.R. gibt es darüber hinaus diese idiomatische Note, die man als psychedelisch bezeichnen muss. Diese habe sich, so bestätigt die Band, wie von selbst entwickelt – während der gemeinsamen Jams, die eben nicht angeleitete sind und somit Platz lassen für die jeweiligen Interessen und Vorlieben der einzelnen Mitglieder. Wie schon andere Bands in den letzten 30 Jahren lassen sich die vier Musiker von C.A.R. an ihren rheinischen Vorgängern messen – gleichzeitig nutzen sie es, um sich der eigenen musikalischen Positionen und Ausdrücke zu versichern und immer wieder in Kontakt mit der eigenen Sprache zu treten. Das geht gerne auch Hand in Hand: »Any Percent« nahm man zusammen mit René Tinner auf, dem Schweizer Tonmeister und Produzenten, der das CAN-Studio in Weilerswist leitete und einer der wichtigsten Architekten des rheinischen Krautklangs war.

So ist sichergestellt: Auch in ein oder zwei Jahrzehnten werden sich Bands aus dem Rheinland mit Vorgängern auseinandersetzen müssen. Diese heißen dann eben C.A.R. – Kölner Traditionen 2.0.

Text: Lars Fleischmann. Foto: Frederike Wetzels

Love-Songs sind eine Band, die man schwer googlen kann, und deren Sound sich nicht so leicht einordnen lässt. Aus ihren Jazz-Wurzeln schießt Kosmischer Kraut und mehr.

Love-Songs

Love Songs, ja, das sind Liebeslieder. Love-Songs hingegen ist eine Band, die in Hamburg (und mittlerweile auch zu einem Drittel in der Bundeshauptstadt) zu Hause ist. Nein, einen Gefallen hat die Band uns als Hörer*innen mit ihrer Namenswahl echt nicht gemacht. Wer nämlich den Namen der Lovies, wie Fans sie liebevoll nennen, in Suchmaschinen oder Streamingportalen eingibt, wird zugeschüttet mit Compilations von Kuschelrock bis zum offiziellen Sampler für das bescheuerte Reality-TV-Format »Bachelorette«.
Dazwischen versteckt liegt derweil ein musikalischer Schatz. [Kurz eingeworfen: Der Bindestrich bei Love-Songs hilft in dem Falle gelegentlich bei der schnelleren Orientierung!]
Das Trio, bestehend aus Manuel Chittka (drums), Thomas Korf (electronics und vox) und Sebastian Kokus (bass), ist womöglich gar keins. Denn ihre Musik ist immer wieder durch Kooperationen und Gastmusiker*innen aufgewühlt worden. Am prominentesten vielleicht von Ulf Schütte (Datashock / Phantom Horse), der auf ihrer letzten LP für das Hamburger Label Bureau B gleich mitgenannt wird. »Spannende Musik« ist sogleich auch ein Versuch, das eigene Bandgefüge weit zu öffnen, ein Tor aufzumachen und Einflüsse fließen zu lassen.

»Ich will immer nur eins. Ich kann immer nur eins. Ich sag immer nur eins. Ich mach immer nur eins …«

Aber gehen wir nochmal einen Schritt zurück: Schon von Anfang an kümmerten sich Chittka, Korf und Kokus wenig um Trends und arbeiteten selber an einem charakteristischen, idiomatischen Love-Songs-Sound. Spuren dieses Sounds sind zu lesen: Man landet beim dichten Kosmischen Kraut eines Günther Schickert, der seine Erkenntnisse aus der Berliner Free Jazz-Szene auf elektronische Produktionen übertrug. Man landet ganz sicher auch bei Palais Schaumburg und ihrem in der ersten Inkarnation für deutsche Ohren (trotz Landessprache) etwas zu internationalem Gesang. Wohlfeile Vergleiche zu Rheinland-Kraut-Koryphäen hingegen verbieten sich – man lugt womöglich eher nach München und zur Hippie-Kombo Embryo. Auch hier wieder Jazz-Wurzeln, nur mal so eingeworfen.

Für die letztgennannte Traditionslinie sprichen die Durchlässigkeit für Einflüsse und der bereits erwähnteVerbündungswillen: Zusammen schafft man meist mehr als alleine. Und so blickt man auch über den eigenen Tellerrand hinaus. Bestes Beispiel wäre die Zusammenarbeit mit der Albanerin Hava Bekteshi.

Hier trifft die Eigenheit des Love-Songs-Klangs auf eine lange, folkloristische Tradition, die sich in der Musik der Sängerin Bekteshi wiederfindet und aktualisiert. Gemeinsam landet man bei einem verdichteten Sound-Universum, das sich innerhalb von Minuten ausbreitet, einkerbt und leise verschwindet – nicht ohne Nachhall in Kopf und Geist.
Mit diesem Nachhall ist man immer wieder konfrontiert, wenn man sich durch die Musik des Trios klickt (ein Großteil ist vornehmlich digital erschienen) oder wenn man die Platten auflegt: Manchmal findet man dieses Echo IN den Tracks. Dann passiert etwas im Off-Beat, eine eigenwillige Dub-Interpretation taucht auf. Ein andermal wiederum erscheinen diese Echospulen AUSSERHALB der Tracks, worauf sich  einzelne Zeilen, die Sprechgesangs-Spezialist Korf meist in gekonnter Neutralität ins Mikro schiebt, festsetzen und einnisten. »Ich will immer nur eins«, singt er etwa in dem fast 16 Minuten währenden Song »Inselbegabung«. Diese Zeile variiert er: »Ich kann immer nur eins, Ich sag immer nur eins, Ich mach‘ immer nur eins …«
Wie ein treuer Begleiter heftet sich diese Zeile an die Fersen der Hörer*innen: Bleibender Eindruck. Wenn ein Gedanke einen Verstand erstmal infiziert, ist es fast unmöglich ihn zu entfernen. Virale Musik.

Bis sie da ankommen, vergehen Minuten. Keinesfalls zu viele; der Track ist austariert bis ins Kleinste. Mit seinen Glockenklängen zu Beginn ruft er sakrale Zusammenhänge auf. Langsam schieben sich eine Klarinette und eine Querflöte ins Bild; sie verlassen die Kirche und weisen eher auf grüne Auen. Spiritualität kann an jedem Ort herrschen. Ein Bass, ein Schlagzeug, mehr synthetische Klänge: Jetzt erst treten die Love-Songs voll auf. Da sind schon vier Minuten ins Land gegangen, auch wenn es ob der Kurzweiligkeit niemand mitbekommen hat.

Das Trio Love-Songs wird auch im King Georg nicht zu dritt auftreten; wie passend. Fion Pellacini wird mit seiner Klarinette für diese eine Nacht Teil der Band. Steigt ein in den Kosmos und erweitert ihn. So wie man es von echten Love-Songs kennt. Für Liebesschmonzetten von Mark Forster und Konsorten würde ich hingegen nicht meine Hand ins Feuer legen.

Text: Lars Fleischmann. Foto: Natalia Sidor

Saxofonistin, Komponistin und Sängerin Johanna Klein spielt im April mit ihrem eigenen Quartett und im Duo mit Szymon Wojcik bei uns. Ein Gespräch über künstlerische Entwicklungen, gemeinschaftliche Prozesse und persönliche Erfahrungen.

Johanna Klein

Saxofonistin, Komponistin und Sängerin Johanna Klein wuchs auf in Rüsselsheim und studierte an der Hochschule für Musik und Tanz Köln bei Niels Klein, Roger Hanschel und Claudius Valk.

Schon länger ist sie ein integraler Teil der Kölner Musikszene, spielt mit Musiker*innen aus verschiedenen Genres und Stilen zusammen: Gianni Brezzo, Eva Swiderski’s Trio/Quartett, Matthias Vogt Duo, Jannis Sicker Trio und der Grüne Salon – um nur ein paar zu nennen. Im Zentrum ihres Wirkens steht dennoch ihr eigenes Quartett. Dort sitzt Jan Philipp an den Drums, Nicolai Amrehn bedient den Bass und Leo Engels die Gitarre. Mit dem Quartett gewann sie 2019 den jazz@undesigned Preis und 2021 den Kompositionspreis des Avignon Jazz Festivals in Frankreich.

Nach ihrem Debüt »Cosmos« aus dem letzten Jahr erscheint demnächst die LP »No Shining«. Im April spielt sie gleich zwei Mal in der King Georg Klubbar: mit dem Johanna Klein Quartett am Samstag, den 09.04. und mit dem Projekt Wojcik/Klein am Freitag den 22.4.

Welche Entscheidung kam für Dich zuerst: Ich gehe zum Studieren nach Köln. Oder: Ich will Musikerin werden?

Nach meinem Abitur war für mich klar, dass ich studieren und wegziehen möchte. Eine Großstadt wie Köln fand ich immer reizvoll. Hier gibt es eine große Jazzszene, viel zu erleben und viele meiner Freundinnen und Freunde sind auch hierhergezogen. Allerdings war die Studiumswahl für mich keine eindeutige Entscheidung. Musikerin zu werden kam für mich auf jeden Fall sehr in Frage, ich liebe es schon immer Musik zu machen und brauch das auch, hatte aber große Zweifel, ob ich davon leben kann und will. Letztendlich habe ich dann Lehramt studiert, wollte dafür aber auch unbedingt nach Köln kommen, da man an der Musikhochschule dort den gleichen Zugang zu Instrumentalunterricht, Combos und Veranstaltungen hat wie Kommiliton:innen, die ein reines Instrumentalstudium absolvieren. Die Frage was ich eigentlich will hat mich viel beschäftigt, teilweise immer noch, und ich habe nach Zweifeln darüber ob ich mein Studium abbrechen soll oder nicht dann für mich den Kompromiss gefunden, nach meinem Studiumsabschluss im März 2021 nicht ins Referendariat zu gehen, sondern als Musikerin zu arbeiten, einfach weil ich diesen Wunsch schon so lange in mir trage.

Warum hast du da so gehadert?

Das hat glaube ich viele Gründe. Zum Beispiel habe ich von meinem Elternhaus vermittelt bekommen, dass man als selbstständige Musikerin oder Musiker nicht leben kann. Und es ist ja auch nicht leicht, vor allem wenn man an Themen wie Rente, Kinderkriegen und finanzielle Unabhängigkeit denkt. Ich glaube, ich tendiere auch dazu, manchmal sehr weit in die Zukunft zu denken und vieles zu hinterfragen. Möchte ich mit 50 Jahren noch auf der Bühne stehen? Kann ich es mir leisten, Kinder zu kriegen? Das sind so Fragen, die ich mir schon früh gestellt habe und die mich beeinflusst und manchmal auch blockiert haben.

Was macht dieses Thema mit dir?

Gerade stößt das eine interessante Entwicklung bei mir an, weil ich mir vorgenommen habe mehr im Hier und Jetzt zu leben und mir die Freiheiten zu nehmen, die ich jetzt gerade brauche um glücklich zu sein. Nur auf eine Zukunft hinarbeiten, die vielleicht auch ganz anders aussehen wird, und dabei unglücklich sein, macht einen ja weder jetzt noch später glücklich. Ich nehme mir eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben diese Freiheiten heraus und lasse mich treiben, kann meinen Drang nach kreativem Schaffen komplett so ausleben wie ich will, weil ich jetzt endlich die Zeit dafür habe. Und das ist ein ungemein befriedigendes Gefühl. Manche Fragen über die Zukunft kann ich ja auch noch ein bisschen ruhen lassen.

Weil du das so explizit angesprochen hast und zugestimmt hast, darüber zu reden: Für dich als Instrumentalistin gibt es ja eben nochmal andere Fragen zu beantworten als es für cis-männliche Kollegen jetzt der Fall wäre. Und obwohl sich ja gerade sehr viel tut, muss ich fragen: Haben deine Zweifel auch mit deinem Frausein zu tun?

Ich glaube, der Ursprung meiner Zweifel ist sehr komplex, aber ich denke auch, dass das Frausein da teilweise mit reinfließt. Es ist nun mal für Frauen schwerer finanziell unabhängig zu sein beziehunsgweise zu bleiben und trotzdem Mutter zu werden. Außerdem ist mir bewusst geworden, dass mir vielleicht auch schlicht weibliche Vorbilder in meinem Werdegang gefehlt haben. Und noch komplexer wird es dann, wenn man an die Erziehung oder Sozialisation von Mädchen und Frauen in unserer Gesellschaft denkt beziehungsweise an meine Erziehung und Sozialisation. Das spielt sicherlich auch eine Rolle – wenn auch eher unterbewusst. Ich finde es super, dass es da gerade ein Umdenken gibt und vieles thematisiert und aufgearbeitet wird. Davon profitiere auch ich – auch wenn die Frage, wie und wann man Gerechtigkeit herstellt, sehr komplex ist.

Johanna Klein Quartett

Du hast gerade davon gesprochen davon »zu profitieren« – was meinst du damit? Und was sind so Probleme, mit denen du konfrontiert warst und bist?

In der Jazzszene findet gerade ein Umdenken statt. Man achtet mehr darauf, dass Frauen gezeigt und präsentiert werden. Ich fühle mich dadurch ermutigt mein Ding zu machen und mich zu zeigen. Ich habe das Gefühl, dass Frauen sich untereinander auch mehr stärken und ermutigen und weniger Konkurrenzgedanken herrschen. Und kein*e Veranstalter*in will sich Sexismus auf die Fahne schreiben. Da der Anteil von Jazzmusikerinnen bislang sehr unterrepräsentiert war, profitiere ich von diesem Umdenken.

Andererseits möchte natürlich kein*e Musiker*in gebucht oder ausgezeichnet werden wegen des Geschlechts, sondern wegen der künstlerischen Leistung. Ich will als Musikerin gebucht werden, nicht als Frau. Mich nervt es, wenn ich als »Frau im Jazz« angekündigt werde und nicht als »Musikerin«. Und gerade dann kommt auch schnell die Retourkutsche, wenn man so Sprüche hört wie: »Das hat sie ja nur bekommen, weil sie eine Frau ist«. Also ab wann ist denn nun Gerechtigkeit hergestellt und ab wann darf man denn als Frau mit Stolz von sich behaupten, dass man ein Konzert spielt oder ein Preis bekommt, weil man eine gute Künstlerin ist? Ich finde das sehr komplex. Auch die Frage, ob man eine Frauenquote einführen sollte oder nicht. Der Anteil von Frauen in diversen Kontexten soll im Idealfall ja nicht von einer Quote abhängen, sondern von der Leistung oder dem Können. Aber vielleicht braucht es die Frauenquote als Übergangslösung, um einen Zustand der Gerechtigkeit beziehungsweise eine Annäherung daran herzustellen. Ich glaube Gerechtigkeit ist ein Idealzustand, an den man sich unendlich annähern kann, der aber nie komplett erreicht wird. Und wir sind immer noch relativ weit davon entfernt, wenn ich so überlege was ich mir teilweise immer noch für Sprüche anhören darf nach Konzerten. Oft bekomme ich von meist männlichem Publikum im Anschluss an ein Konzert Rückmeldung, die sich auf mein Aussehen bezieht, meistens soll ich doch darauf achten mehr zu lächeln auf der Bühne. In einem Interview zu meinem ersten Album wurde ich gefragt, inwiefern meine Musik dadurch beeinflusst wird, dass ich eine Frau bin. Ich glaube, sowas müssen sich Männer nicht anhören.

Die Frage bezieht sich jetzt auf das Quartett, mit dem du am 8.4. auch im King Georg spielst: Wie ist eigentlich das Verhältnis von dir zwischen »live spielen« und »eine Platte aufnehmen«?

Für mich waren das lange zwei grundverschiedene Dinge, die ich aber immer mehr versuche in Einklang zu bringen. Letztendlich gibt es in beiden Situationen einen begrenzten zeitlichen Rahmen, in dem man zeigen möchte, was man kann. Im Konzert verpuffen die Momente aber wieder, was mir hilft, mehr den Moment zu genießen. Auf einer Aufnahme bleibt das für die Ewigkeit festgehalten. Natürlich kann man im Studio dafür mehrere Takes machen, bis man zufrieden ist. Aber das Bewusstsein darüber, dass es jetzt drauf ankommt und dass die Aufnahme dann für immer festgehalten und veröffentlicht sein wird, ist einfach ein anderes. Insofern war für mich die Aufnahme meines ersten Albums mit viel mehr Aufregung und Druck verbunden, als vor einem Konzert. Das war jetzt beim neuen Album zum Glück anders.

Und jetzt erscheint deine zweite Platte »No Shining«. Wie war es bei der?

Da ging es mir persönlich deutlich anders. Nicht nur musikalisch ist seitdem in der Band viel passiert, sondern auch meine eigene Einstellung hat sich geändert. Ich bin deutlich gelassener in die Situation gegangen, was vielleicht auch mit unserer musikalischen Entwicklung zu tun hat. Seit der Aufnahme der ersten Platte haben wir als Band angefangen, immer öfter auch frei zu improvisieren und uns peu à peu zu lösen von vorher festgelegten Formen und Abläufen. Ich habe mich auch mehr gelöst von dem Anspruch, einer bestimmten Stilistik gerecht werden zu wollen oder so zu spielen, dass es anderen gefallen könnte. Ich spiele jetzt viel mehr das was mir selbst auch gefällt. Ich habe angefangen, verschiedene Klangmöglichkeiten meines Instruments und auch meine Stimme zu nutzen, auch mal bewusst »unschön« und »krachig« zu spielen. Da geht es dann nicht mehr um Perfektionismus und Bewertungskriterien, sondern viel mehr um Energie und Spielfreude. Und wenn ich frei improvisierend spiele habe ich keine andere Wahl als im Moment zu sein.

Und das konntet ihr für die zweite Platte ins Studio übertragen?

Genau. Ich hatte zwar drei, vier Kompositionen vorbereitet, die wir auch aufgenommen haben. Die sind aber letztendlich nicht auf der Platte gelandet.

Hat das für dich auch etwas mit Vertrauen zu tun?

Auf jeden Fall. Sowohl Vertrauen in den Prozess als auch Vertrauen innerhalb der Band. Wir spielen jetzt schon einige Jahre zusammen und wissen, wie wir als Kollektiv gut funktionieren. Dazu kommt das Vertrauen auch in einen selbst, dass es schon gut so ist wie man spielt.

Gab es daneben noch andere Einflüsse für die musikalische Entwicklung – weg vom European Modern Jazz, hin zu einem freien Jazz-Ansatz mit Pop-Appeal?

Die Einflüsse, die in den letzten Jahren hinzukamen, sind gar nicht mehr so sehr mit typischem Jazz assoziiert. Natürlich finde ich Jazzmusiker*innen wie die Saxophonistin Lotte Anker oder Peter Brötzmann großartig. Gerade während Corona haben mich aber vor allem Musiker*innen interessiert, die eher zum experimentellen Pop gehören wie beispielsweise Mija Milovic, JFDR oder Tirzah. Oder auch mal sowas wie peruanische Volksmusik oder zentralafrikanische Pygmy Musik. Das heißt ja nicht, dass ich dann genau so klingen will, sondern dass ich es mir gerne anhöre und mich das in meinem musikalischen Schaffen inspiriert.

Mit dem Quartett spielst du am 8.4. im King Georg. Was kann man dann eigentlich erwarten? Eine Wiederaufführung der Platte oder etwas, was gar nicht damit zu tun hat?

Die Frage haben wir uns im Vorhinein auch gestellt. Die frei improvisierten Aufnahmen aus dem Studio sind super geworden. Will man das dann reproduzieren, geht das überhaupt? Letztendlich kann beides passieren. Alles kann, nichts muss.

Am 22.4. spielst du mit einem anderen Projekt im King Georg. Wojcik / Klein. Was kann man da erwarten?

Szymon Wojcik und ich haben unsere eigene Klangästhetik gefunden, die nochmal ganz anders ist als das, was ich sonst so mache. Wir nutzen beide Electronics, arbeiten mit Laptops und Effektpedalen und erzeugen und verfremden Klänge. Szymon nutzt dazu seine Gitarre. Hier und da können auch songhafte Stücke entstehen. Ich nutze vor allem meine Stimme, weniger das Saxophon. Es ist jedenfalls ein komplett anderes Konzert als jetzt am Samstag und ich freue mich total auf beide Konzerte und auch die Abwechslung!

Interview: Lars Fleischmann

Bei Gianni Brezzo wird (Jazz-)Musik zum Lebensgefühl, zum aufgeklappten Cabrio-Dach, zum barfuß Laufen am Strand, zum strahlenden Soundtrack einer Jugend.


Gianni Brezzo

In Köln muss man nicht lange nach jungen Musiker*innen suchen, die sich mit Jazz auseinandersetzen. Die ansässige Hochschule, die selbstorganisierte Szene sowie alte und junge Institutionen wie das King Georg sorgen für eine formidable Infrastruktur in der Stadt. Ein besonders erfreulicher Aspekt ist dabei, dass auch abseits der klassischen Pfade immer häufiger die Nähe zum Jazz gesucht wird.

Einer dieser Musiker*innen ist der Brühler Gianni Brezzo. Ein Künstlername, eigentlich heißt der hochtalentierte Komponist und Produzent Marvin Horsch. So lernten ihn auch Freund*innen der elektronischen Musik kennen, als er vor etwa zehn Jahren anfing im Geiste des »Sound of Cologne«, einem melodischen Minimal-Ansatz, der durch das Label Kompakt weltweit etabliert wurde, Tracks zu produzieren. Doch diese Stücke wären nie bloß funktionale Tanzmusik, sondern bewiesen schon eine Neigung zu ungewöhnlichen Songstrukturen und Harmonien.

Es wunderte nicht wenige, als Horsch plötzlich aus dem Scheinwerferlicht verschwand, wo doch gerade erst in England und auch den USA über ihn berichtet wurde. Es wurde still, doch nur scheinbar, im Geheimen bastelte Horsch schon länger an einer anderen Idee von Musik. So half er Keshav Purushotham, der schon häufiger am Wochenende in der King Georg Klubbar aufgelegt hat, bei der Produktion seines Solo-Debüts unter dem Namen Keshavara. Hier bewies er ein besonders sorgfältiges und innovatives Händchen.

Zeitgleich tauchte eine Chimäre aus dem Nichts aus. Eine LP machte die Runde, deren verwirrender Name lautete »tak 2€«. 2017 sorgte die für Erstaunen, war doch unklar, wer der Urheber dieser sonderbaren und interessanten Musik war, die klang wie Jazz und sich anfühlte wie Jazz, aber vermeintlich keiner war. Noch mehr Fragezeichen erzeugte das anschließende Konzert im Off-Kunstraum Gold + Beton am Ebertplatz. Hier spielten Kölner Jazzmusiker*innen (zum Beispiel Jan Philipp am Schlagzeug) groß auf … einen Gianni Brezzo suchte man im Line-up hingegen vergeblich. Wer war dieser Mann? Horsch beziehungsweise Brezzo war die erste Zeit ein Geist, der rumspukte und junge Menschen den Jazz lehrte. Im Interview mit der Kölner Stadtrevue kommentierte er diese Phase ganz unprätentiös: »Eigentlich hatte ich mir nicht viel dabei gedacht, außer ein bisschen Spaß haben zu wollen und die Musik, die ich für das Projekt schrieb, von der Band meines Gitarrenlehrers performen zu lassen.« Statt Masterplan eben Spaß – eine Haltung, die man selbstverständlich im Jazz immer wieder findet.

»Am liebsten mache ich Musik am Morgen, zu einem Kaffee am Nachmittag oder abends mit einem Glas Vino«

Gianni Brezzo

Die Übergangszeit war wichtig, denn Horsch war als Produzent elektronischer Musik ein Aushängeschild der Stadt und viele seiner Fans nicht unbedingt bereit für diesen großen aber folgerichtigen Schritt. So war es eine Eingewöhnungszeit mit Gianni Brezzo. Allmählich zeigte sich Horsch öfter als Gianni Brezzo in der Öffentlichkeit, nahm bei Konzerten, wie etwa in der Kölner Philharmonie vor zwei Jahren, selbst die Gitarre in die Hand und führte seine Band. 

Mittlerweile gibt es drei Solo-Alben, eine Kooperation mit dem Osnabrücker Ambient-Künstler Cass., dazu eine Handvoll EPs, Compilationbeiträge, Singles – und womöglich noch hunderte Tracks, die nur noch nicht das Licht der Welt erblickt haben. Brezzo erklärt den enormen Output so: »Ich mache täglich Musik. Ich nehme Musik täglich auf.« Mit jeder Platte nähert er sich klassischeren Jazz-Gefilden an – ohne seine eigene Handschrift zu verlieren. Es ist eine eigene, sehr frische Note, die Brezzo da anklingen lässt.

So bleibt er aber für sein Publikum ungreifbar, was sich aber in Zeiten sich immer schneller morphender Erwartungshorizonte durchaus lohnen kann. Trotzdem gibt sich Brezzo betont lässig und zurückgelehnt: »Am liebsten mache ich Musik am Morgen, zu einem Kaffee am Nachmittag oder abends mit einem Glas Vino.« Musik produzieren wird hier der Nimbus der Arbeit genommen, sie wird wieder zu etwas, was man längst vergessen hatte: Zum Lebensgefühl, zum aufgeklappten Cabriodach, zum barfuß Laufen am Strand, zum strahlenden Soundtrack einer Jugend.

Ganz so billig lässt Brezzo die Hörer*innen dennoch nicht davonkommen. Klar, auf »The Awakening« wird viel gechillt, wie man so sagt. Aber eben nicht ohne Disruption: »Beirut« mit der Vokalistin J. Lamotta erinnert uns im Gewand des Jazz-Pops an die schreckliche Situation in Libanons Hauptstadt. »In My Arms« fängt mittenmang an zu dröhnen und ist dann eher überwältigend als entspannt. Immer wieder gibt es jene kleine Hürden, die man elegant überspringen muss, um dahinter einfach zu genießen. Das ist aber nicht störend, sondern vor allen Dingen richtig gutes Songwriting. Keine Sorge, dass sich hier irgendwas bereits erschöpft haben könnte: Gerade die Arbeit mit den Sänger*innen J. Lamotta und Otis Junior hat Brezzo gefallen. Also könnte die nächste Platte vornehmlich auf Gesangsspuren basieren – oder halt doch etwas komplett anderes bereithalten. 

Text: Lars Fleischmann

Das Duo LUDWIG//WITTBRODT klingt nach Neuer Musik, Minimal Music, verschiedensten Jazz-Facetten, Kraut, Elektroakustik – und sehr eigen.


LUDWIG // WITTBRODT

Wer sich in der breiten und großen Landschaft der NRW-Musikszene, speziell in den Jazz- und Jazz-assoziierten Kreisen umschaut, droht schnell überwältigt zu werden von der Vielzahl an Musiker*innen, die sich hier tummeln. Von dem Umstand profitieren wir alle. Dennoch: Die ganzen Namen muss man erst mal auseinanderhalten können. Glücklicherweise gilt NRW, vor allen Dingen die Region Rhein-Ruhr, als Vorzeigestandort für Künstler*innen-Kollektive. Das kann man getrost behaupten.
Dementsprechend ist es eine Einstiegshilfe, sich an den Namen der Kollektive und Gruppierungen zu orientieren. Das ist wohlgemerkt keine neue und auch keine hier entstandene Entwicklung. In Chicago hatte sich in den 1960er Jahren die Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) gebildet, Musiker*innen wie Gruppen vertreten, Konzerte und Stipendien organisiert …

So machen es dann auch die heutigen Kollektive – und mit dem Elektroakustik-Duo LUDWIG//WITTBRODT spielt am 19.2. 2021 eine Formation im King Georg, die (un)mittelbar mit dieser Entwicklung zu tun hat.

Da wäre einerseits das Kollektiv The Dorf aus dem Ruhrgebiet, dessen Teil die in Bonn geborene Cellistin Emily Wittbrodt ist. Sie studierte ab 2010 klassisches Cello an den Universitäten in Essen, Düsseldorf, Helsinki, Florenz – und im Anschluss Jazzimprovisation in Köln. Ihr musikalischer Schwerpunkt ist heute kaum mehr zu greifen, vielmehr zeichnet sich Wittbrodt durch Versatilität und ein unheimlich begeisterndes Gespür für Interdisziplinarität und Genreverschränkung aus. So spielt sie einerseits in dem bereits erwähntem Big-Band-Kollektiv The Dorf; dazu in etlichen Konstellationen, die ein Feld zwischen Drone, Avantgarde-Jazz, Elektroakustik, Improv und Neue Komposition ausloten.

Gerade mit dem Duo LUDWIG//WITTBRODT kommen die Assoziationen in Legionen. Neue Musik, Minimal Music, verschiedenste Facetten des modernen und komplexen Jazz, Kraut, Elektroakustik. Man denkt an Steve Reich, Terry Riley, Stockhausen, Kagel, Kelan Phil Cohran … Alleine im Opener des ersten Kassetten-Releases »LUDWIG//WITTBRODT« kann man all diese Traditionen und Referenzen erhaschen. Manche subtiler, andere offensichtlicher. Im weiteren Verlauf werden noch weitere Musiker*innen der Musikgeschichte als Pat*innen aufgerufen, darunter Wendy Carlos, Phill Niblock oder Tony Conrad.

Erschienen ist die Kassette 2020 beim Mülheimer (a.d.R.) Label Ana Ott. Ein genauso kollektivistisch angelegtes Label, wie das zu The Dorf gehörige Umland Records, das sich im Fall von Ana Ott rund um das Mülheimer Kulturzentrum Macroscope gegründet hat – und von dort aus seine vielgestaltigen Aktionen, Projekte und Bands realisiert.

Eine der treibenden Kräfte ist der Musiker Edis Ludwig (daher dann auch der Name LUDWIG//WITTBRODT). Ludwig ist Teil der Band Nasssau, ein lose formuliertes Band-Projekt, das im Kern aus acht Musiker*innen besteht und psychedelische Post-Kraut-Musik spielt. Zum Beispiel bei der Kölner Brückenmusik, am Kölner Ebertplatz oder beim Platzhirsch Festival in Duisburg. Dazu kommt die Band Transport (unter anderem mit dem Jazz-Journalisten Niklas Wandt), das Indierock-Quartett The Düsseldorf Düsterboys und weitere. Außerdem betreibt er eben das Label Ana Ott.

Gerade im Projekt LUDWIG//WITTBRODT erkennt man, wie die Tradition des kollektivistischen Arbeitens auch musikalische Vorzüge mit sich bringt. Ein solch fragiles Konstrukt wie dieses Duo, mit seinem Cello einerseits sowie den Drums und Computerspuren andererseits, funktioniert nur bei konzentriertem »Aufeinanderhören und Achtgeben«; die delikaten vier Stücke des Debüt-Albums nur, weil zwei Musiker*innen Vertrauen zu sich und der Musik aufbauen können. Im Live-Kontext, wo das Set-up aufgrund bestimmter technischer Vorgaben sogar noch an Zartgliedrigkeit gewinnt, ist dieses »Miteinander statt gegeneinander« Grundvoraussetzung. So entsteht grandiose Musik, die aus dem Geist des Kollektiven entsprungen ist – und gerade erst ihre ersten vorsichtigen Schritte in die Welt hinauswagt. Begleiten wir sie dabei.

Text: Lars Fleischmann, Foto: Katharina Geling