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Wunderkind – ja oder nein? Die jazzende Singer-Songwriterin Rosie Frater-Taylor im Porträt.

Bekanntermaßen gibt es einige Worte im anglo-amerikanischen Sprachgebrauch, die aus dem Deutschen stammen: Kindergarten, Schwermut, Fernweh, Leitmotiv … und Wunderkind.
Letzteres Wort ist in den letzten Monaten und Jahren gleich mehrfach gefallen, wenn es um die britische Musikerin Rosie Frater-Taylor ging. Ob sich ihre Musik tatsächlich in den Bereich der Wunder verfrachten lässt – oder doch Ergebnis harten Trainings ist -, das lässt sich am kommenden Sonntag, den 30. April im King Georg auf der Bühne sehen. Aber zunächst wollen wir die sensible Songwriterin hier vorstellen.

Es sprach einiges dafür, dass Rosie Frater-Taylor Musikerin werden würde. Der Gedanke drängt sich geradezu auf, bedenkt man, dass ihre Eltern selbst im Musik-Business sind. Ihre Mutter ist die schottische Sängerin Josie Frater. Anfang der 1990er Jahre lernte sie den Drummer Steven Taylor kennen und gründete erst eine Acid-Jazz-Band (The Runners; einziges Album »Phonetic«) und dann eine Lebenspartnerschaft. Ihr Spross Rosie sollte sich als Kind noch an die Drums setzen und ihrem Vater nacheifern, schon bald aber die Gitarre für sich entdecken. Ihr Vater reagierte alles andere als veschnupft, sondern spielte für seine Tochter Schlagzeug ein – und das macht er bis heute, wie man auf dem zweiten Longplayer »Bloom« aus dem Jahr 2021 hört. »Mein Vater spielt die Drums auf der Platte und ich denke, das hört man auch. Man kann diese interfamiliären Ähnlichkeiten erkennen«, erzählte sie dem Blog Jazzrevelations. Man habe halt sich ähnelnde Instinkte, was Musik anginge. Generell, so hat Frater-Taylor bereits mehrfach betont, ist diese Verbindung zu ihrer Familie ein wichtiger Antrieb in ihrer Musik.

Wo Familie ist, da ist auch ein Zuhause. Und wo ein Zuhause ist, da kann man sich auch einrichten. Vielleicht überinterpretiert man den Sound der 23jährigen, aber man meint doch eine gewisse Tendenz zu hören: Frater-Taylor richtet sich in ihren Songs – genauso in den wunderbaren Cover-Versionen, die sie auf dem Album unterbringt – etwa Fleetwood Macs »Dreams« – ein, macht sie zu einem Heim und agiert mit einem Urvertrauen zu den eigenen Fähigkeiten, aber auch zu den Bedingungen, unter denen die Musik geschieht und entsteht. Neben familiärer Wärme ist auch ihr eigenen Do It Yourself-Ansatz Schlüssel zum Erfolg. Schon zu Teenagerzeiten bastelte sie Tracks am Computer und in der Software »Cubase« zusammen, bis heute hält sie die Zügel in der Hand. Keine Entscheidung wird ohne sie getroffen. Songwriting und Arrangements: Frater-Taylor tritt wie eine kreative Urzelle, eine singend-jazzende Ich-AG auf.

Den gewissen Eigensinn kann man auch hören, denn ihre Musik ist zwar extrem eingängig, aber nie beliebig oder simpel. Ihre Harmonien sind eindeutig dem Jazz entnommen, die Stimme und Gesangstechnik genauso – hier wird neben soulig-poppigen Gesangsparts gerne komplex gescattet.

Das gleiche gilt für ihre Gitarrenparts, die zwischen einfachen Akkorden und hochstilisierten, verdichteten Läufen changieren: »Man hat mir häufiger gesagt, dass ich nicht den einfachen Weg wähle.«

Zum Chartserfolg kommt man anders, das stimmt. Der Weg führt aber zu einer leidenschaftlichen Anhänger*innenschaft: Ihr Mix, der so unterschiedliche Positionen wie Esperanza Spalding und Joni Mitchell unter einen Hut bekommt, dann bei George Bensons Gitarrenriffs vorbeischaut, an Jacob Collier vorbeirennt, um endlich bei Lewis Taylor zu landen. Gerade die Musik des 57jährigen Briten beeinflusst sie nachhaltig:

»Es gibt unzählige Geschichten von Musikern wie Lewis Taylor, die von  Major Labels gesignt wurden, bloß um wieder fallengelassen zu werden, weil ihre Musik zu kompliziert ist. Sie versuchen genre-mäßig es anders zu machen. An den Punkt will ich auch kommen.« Wie dieser Punkt aussehen soll? Klar, in der Auflösung von Genregrenzen, die längst als überflüssig und unnütz wahrgenommen werden. Bei Rosie Frater-Taylor dreht sich alles um die vermeintliche Grenze zwischen Folk und Jazz, die hierzulande hart verteidigt wird, derweil in Großbritannien schon von jeher durch ihre Pub-Sounds- und Grassroots-Culture diskutiert wird. Das erinnert indes auch an die übergreifenden Genresynthetisierungen der beiden Gitarristen John Scofield und Bill Frisell.

Große Namen, die Frater-Taylor aber nicht zu scheuen braucht. Immerhin beweist sie mit »Bloom«, dass es längst an der Zeit ist überkommene Muster abzulegen. Versöhnlich und doch fordernd, mitreißend und auf Distanz haltend, sensibel und selbstbewusst: Wer sich sowas traut, der oder die ist entweder übermütig oder doch … ein Wunderkind.

Text: Lars Fleischmann.

Steve Gunn, der Geheimtipp, den viele schon kennen – und alle kennen sollten. Ob Indie- oder Jazz-Fans. Am 15. April spielt er live in der King Georg Klubbar.

Wenn der Dauerbrenner unter den amerikanischen Musikmagazinen, der Rolling Stone, einen Künstler als Best Kept Secret bezeichnet, dann gleicht das einem Ritterschlag. Das Best Kept Secret, also das am besten gehütete Geheimnis ist Steve Gunn womöglich gar nicht mehr – jedenfalls nicht, wenn man sich in Insider-Kreise und unter Musiker*innen umhört. Da ist dem Musiker aus dem Städtchen Lansdowne bei Philadelphia/Pennsylvania nicht nur die höchsten Würden, sondern auch totaler Rückhalt gewiss: Lee Ranaldo und Kim Gordon der Noise-Revolutionären Sonic Youth gehören zu seinen Fans, genauso wie die junge Indie- und Americana-Garde um Angel Olsen oder Kurt Vile.

Letzterer hat zudem unmittelbar Einfluss auf Gunns Entwicklung genommen, als er ihn zum Mitglied seiner Backingband, den Violators, machte – und damit einem weltweiten Publikum bekannt machte. Davor trudelte Gunn auf seinen eigenen Pfaden durch die Musikgeschichte. 2007 erschien sein erstes Album. Mit seinem eigenen Namen betitelt, war »Steve Gunn« zwar nicht das erste Lebenszeichen, aber doch Startetappe für einen musikalische Ausdruck, der vordergründig nach Indie-Rock oder Singer/Songwriter klang, aber Anschluss fand an modernen Improvisationsformen, die sich stracks aus der amerikanischen und europäischen Jazz-Szene entwickelten. Tief beeinflusst von Chicagoer Postrock-Experimenten von Jeff Parker, Tortoise und David Grubbs aus den Neunzigern, genauso von der wilden deutschen Free Jazz-Szene, klingt Steve Gunn damals wie ein Anhänger des Serialismus und der improvisierten Minimal Music. Nachhören kann man das unter anderem in der Zehnerplatten Folge mit dem Jazz-Experten Felix Klopotek.

Der Jazz hat Gunn indes auch Jahre später nicht verlassen. 2019 nahm er das Album »The Unseen In Between« in den berühmten Strange Weather Studios in Brooklyn, New York, auf. Nicht weit weg von seiner eigenen Wohnung spielte er hier nicht nur mit dem Bob Dylan-Bassisten Tony Garnier, sondern auch an einem von Charles Mingus‘ originalen Kontrabässen. Davon ab beweist Gunn mit der Platte vor allen Dingen seine Liebe zu bluesigem Americana.

Davor, dazwischen und danach reiht Gunn Platte an Highlight-Platte. Da ist zum Beispiel seine 2013er LP »Time Off«: Hier präsentiert er sich etwa als reifer Blues-Folker, der zwar sicher auch Bob Dylan- Platten im Regal stehen hat, aber vor allen Dingen JJ Cale oder auch Smog/Bill Callahan studiert und rezipiert hat. In Pennsylvania beginnen die Appalachen – und das hört man hier auch. Der bergige Folk des us-amerikanischen Kernlandes hinterlässt seine deutlichen Spuren auf „Time Off“; ohne je altbacken oder konservativ zu klingen.

Da sind aber auch die vier grandiosen Alben des Gunn-Truscinski-Duos, das er zusammen mit John Truscinski bildet. Auf »Soundkeeper« (2020) untersucht das Gespann weite Korridore zwischen Improvisation und Komposition. Auf der Basis von festgelegten Patterns und musikalischen Ideen zeigt man sich spontan inspiriert – das kann mal 16 Minuten anhalten, wie im Titelstück, oder nur zwei Minuten. »Closeness« heißt dann eine dieser Miniaturen und ist ätherisch-verhalltes Experiment aus Synthesizern, Drums und heavy-reverb-Gitarren – aber auch sinnliches Vergnügen von sublimer Schönheit.

Es sind wie so oft auch gegensätzliche Welten, die Steve Gunn immer wieder vereint. Gegensätzliche Attribute werden in seinem Werk zu partner-in-crime, die sich zu etwas neuem verschränken: Rock und Jazz; ausufernd und Songs von wenigen Augenblicken; Instrumental und das gesungene Lied; verkopft und sinnlich; komponiert und improvisiert – nur um einige dieser Paare zu nennen. Das macht ihn eben zu solch einer wichtigen Stimme in der aktuellen Musikwelt. Gunn ist ein Grenzgänger, losgelöst von Genrekonventionen oder Karriereschritten. Einer, der seinen Weg geht, dabei aber nie unnötig aneckt. In etwas mehr als 15 Jahren sind so etliche Alben entstanden – und wer sich in das Werk hinein, der droht im besten Sinne darin zu versinken. Ein Highlight nach dem anderen, immer wieder neue Favoriten. Das selbe gilt natürlich auch für seine Live-Auftritte: Steve Gunn ist als Gitarrenvirtuose jemand, der den FLOW gepachtet hat. Das alles und noch viel mehr kann man dann im King Georg sehen, wenn das nicht mehr ganz so gehütete Geheimnis am 15. April zu Besuch kommt.

Text: Lars Fleischmann

Mit Rainer Trüby kommt eine echte Legende und ein Guru der Música Popular Brasileira am 1.4. in die Klubbar.

Rainer Trüby gilt nicht bloß als Ikone des deutschen Nu Jazz, sondern auch als einer der hiesigen Gurus der MPB, der Música Popular Brasileira.

Kennen Sie zum Beispiel Sergio Mendes & Brasil 66 oder Tom Ze? Dann könnte das durchaus unmittelbar oder mittelbar an Rainer Trüby liegen, der seit den Neunzigern mit seinem umtriebigen Verhalten zwischen Auflegen, Kompilieren und selbst (Band-)Projekte ins Leben rufen die deutsche Digging-Community geprägt hat, wie nur wenige andere. Das geht so weit, dass – so will es der gut überlieferte Mythos – er selbst die Fantastischen 4 mit Samples ausgestattet hat.

Jetzt ist Asha Puthli keine Brasilianerin und Trübys Einfluss sollte hier erst beginnen; vom Höhepunkt sind wir 1992 noch weit entfernt. Stattdessen brach er seine Zelte in der baden-württembergischen Heimat ab, beendete seine Party-Nacht-Reihe im legendären On You-Club und zog in die damalige Underdog-Stadt Freiburg. Die Nähe zur Schweiz sollte sich bemerkbar und bezahlt machen, denn die Nachbarn aus dem nahen Basel kamen in die Clubs an der Dreisam.
Trüby lernte Bernd Kunz kennen und gründete A Forest Mighty Black – ja, klar, der Schwarzwald ruft. 

Langsam schält sich ein eigenes Genre aus der Schale: Nu Jazz. Auch wenn Trüby nie ganz glücklich mit dem Begriff werden sollte: Gefühlt ist die Nähe zu heutigen Beatscene-Experimenten, zum Boom-Bap und zu Sample-Hip-Hop näher. Aber was soll es? Wenn die Leute dadurch die Liebe zum Jazz lernen, dann ist doch allen geholfen, oder?

Nur entfernt strahlen hier Schnippsel von Jazz-Platten durch, manchmal auch nur über Soul und Funk vermittelt. Wir reden derweil über die Neunziger und im Mainstream war Jazz spätestens mit Bill Clinton keine bedeutende Größe mehr. Während aber an einigen Stellen Revivals vorbereitet werden, die erst etwas später zünden sollten – und an wiederum anderer Stelle die Durchlässigkeit gegenüber Free Jazz so groß, dass übersehene Komponisten wie Sun Ra oder Peter Brötzmann auch beim schnöseligen aber meinungsstarken Musikmagazin-Lesertum ankommt -, konzentriert Trüby in Freiburg seine Diggerkünste. Plötzlich stolpert er immer häufiger über Songs und Tracks, die in Kleinststückzahlen veröffentlicht wurden, aber vergleichsweise leicht lizenziert werden konnten.
So entstehen zum Beispiel die »Glücklich«-Compilations für das Stuttgarter Compost-Label: Gesammelt werden hier nicht die brasilianischen, latin oder afro-karibischen Originale, sondern meist virtuos, manchmal wunderbar absurd nachgespielte oder herbeifantasierte Stücke aus deutschen/europäischen Landen.

»Glücklich« von Christian Lembrecht, Claus-Robert Kruse, Rolf Köhler, Peter Franken, Peter Weihe aka To Be. 1977 in Hamburg eingespielt, längst vergessen als Trüby dieses und weitere Stücke 17 Jahre später auf Platte bannt. Nu Jazz oder Rare (Organic) Grooves – egal wie man das Kind damals nennen sollte, wichtig waren die musikalischen Lektionen bezüglich Groove, Improvisation, Spielfreude.

1997 gründet Trüby dann in Freiburg das Trüby Trio – zusammen mit Christian Prommer und Roland Appel. Doch auf ein Album musste man erstmal länger warten; man spezialisierte sich auf Remixe, auf Live-Auftritte und auf einen DJ Kicks-Beitrag. Die Mutter aller DJ-Mixe klopfte 2001 an. Legendär sind die 78 Minuten voller Elan und Esprit, die Techno-Kids wie House-Hipster gleichermaßen irritierte: Tanzbar war das, auch wenn man die Drum-Machines (fast) vergeblich suchte. An dieser Stelle wird aus Nu Jazz langsam Deep House – auch spannend.
Erst zwei Jahre später kam dann das eigentliche Debüt-Album. Als »Elevator Music«, also Fahrstuhlmusik, sollte die Platte in die Geschichtsbücher eingehen. 

Später sollte sich das Trio trennen – im Guten – und Rainer Trüby fortan alleine oder mit immer neuen Partner*innen Singles produzieren, während weiterhin in regelmäßigen Abständen Compilations bei renommierten Labels erscheinen. Der längst zum (musikalischen) Weltenbummler mutierte DJ, füttert nun Plattenteller an allen möglichen Orten mit seinen seltenen Sounds und seinen groovy House-Nummern. Wie zum Beispiel »Jeck«:

Der King Georg-Klassiker passt natürlich wie die Faust aufs Auge für Trübys Besuch am Dom. Auch im bereits vierten Jahrzehnt seiner DJ-Tätigkeit ist der Schwabe – immerhin hat er die Liebe zu gutem Wein in Baden etntdeckt – kein bisken müde. Auch 2023 wird noch gemischt und gemixt, ausgegraben und wieder lieben gelernt. Wir freuen uns auf eine echte Legende.

Text: Lars Fleischmann

Das Konzert des Projekts LIV ALMA der Kölner Saxofonistin Johanna Klein am 25. März nehmen wir zum Anlass, um einen Blick auf das Label zu werfen, bei dem das dazugehörige Album erscheint.

Papercup Records war bereits mehrfach ein gern gesehener Gast und Präsentator bei Konzerten im King Georg. Der vielseitige Label-Ko-Chef Keshav Purushotham war schon bei unseren Podcast-Formaten Klubcast – Die Zehnerkarte UND Jazzcast – Die gute Unterhaltung zu Gast.

Bei Papercup muss man normalerweise an Einweg-Getränkebecher denken, die nach dem Köln-Marathon zu Tausenden auf den Straßen liegen. Doch das Label von Keshav Purushotham und Steffen »Steddy« Wilmking hat mit Überbleibseln oder unnötigen Müllbergen rein gar nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Wie kaum ein anderes Label hat Papercup in den letzten Jahren das Kölner Musikgeschehen geprägt und verändert – und zwar zum Besseren.

Das hätte man 2015 nicht gedacht; immerhin befand sich das Label damals noch in einem Dornröschen-Schlaf. Um das zu verstehen, lohnt ein Blick in die Vergangenheit: Timid Tiger wurden in der ersten Hälfte der Nullerjahre als die Indie-Band mit den süßen Videos (»Miss Murray«) um einen Comic-Tiger bekannt. Gesicht der Gruppe war Frontmann Purushotham. 2009 wechselte dann das Line-Up, Wilmking kam dazu, man ging zusammen zur Sony Tochter Columbia und war immer noch die sympathische Band von nebenan. Nichtsdestotrotz gab es Verschleißerscheinungen und 2012, nach lange währenden Arbeiten am Album »The Streets Are Black«, sind Timid Tiger langsam Richtung Break-Up getaumelt. Um das Album doch noch zu veröffentlichen, gründeten Purushotham und Wilmking schnell ein eigenes Label.

Papercup Records war geboren – nur um dann erstmal wieder in der Versenkung zu verschwinden. Es standen andere Projekte an: Wilmking, der sowieso seit Mitte der Neunziger schon permanent als Drummer, Produzent, Masterer, Songwriter auftrat, produzierte 2011 das Album »Casper XOXO« und war in Folge ein willkommener Gast in den Studios und auf den Alben der deutschen Charts-Größen. Purushotham arbeitete als DJ und entwickelte allmählich sein neues Alter Ego Keshavara. Für die Veröffentlichung des Solo-Debüts wurde das alte Label 2016 wiederbelebt. »Wir wussten damals gar nicht genau, was man alles mit einem Label machen kann. Es war als Kanal für Keshavs Output gedacht – und entwickelte sich dann halt weiter«, so Steddy im Gespräch 2020. 

Und was für eine Entwicklung Papercup nahm! Mittlerweile gibt es neben dem Hauptlabel Papercup noch vier weitere Sub-Label. Da ist der Instrumental-Hip-Hop-Ableger A Good Cup of Hope, Ambient gibt es bei Breezzze. Relativ frisch ist die Musikiste dazugekommen und ganz neu: AAa (Am Anfang angekommen).  Doch wie findet das Label eigentlich seine Künstler*innen? Gerade Keshav tut sich hier hervor (»Er ist unser geheimer A&R«, so Steddy), der als Kenner der Kölner Szene hauptsächlich nach neuen Acts sucht. So kommt immer noch ein Großteil der Künstler*innen eben aus Köln – und aus allen Ecken der Musik. Da wären die Math-Jazz-Indie-Rocker von Infant Finches, das Ambient-Projekt Plasma Hal oder der Psych-Indie der Band ACUA. Ein breiter Einblick in die Kölner Szene.

»Früher machten wir Musik und es gab immer wieder die gleichen Fragen: Wo geht man damit hin? Wo bringt man das jetzt raus? Das war dann auch der Hauptfaktor: Eine Plattform für uns selbst und unsere Freunde bieten« so Keshav. Das klingt pragmatischer als es letztlich ist, die Anerkennung bleibt dennoch nicht aus.  Es gab mittlerweile Preise, das Kern-Projekt Keshavara hat letztes Jahr ein neues Album veröffentlicht und deutschlandweites Echo bekommen. Und auch andere Bands und Künstler*innen können die Plattform nutzen, um ihre bis dato besten Alben zu veröffentlichen.

Wie etwa LIV ALMA, das Projekt der hervorragenden Jazz-Saxofonistin Johanna Klein. Hier taucht sie ab in einen elektronischen Bedroom-Pop amerikanisch/britischer Schule, der mit wenig Mitteln, dafür mit sehr viel Tiefe daherkommt. An ihrer Seite Drummer Jan Philipp – bekannt als Jazzer, aber auch als Teil des Duos Infant Finches.
Leftfield trifft hier auf extrem modernen synthetischen Soul – die Nähe zur britischen Durchstarterin Tirzah und ihrer non-binären Produzent*in Mica Levi ist unverkennbar. Was natürlich hervorragend auch zu Papercup passt, einem Label, dem man stets anmerkt, dass man mehr als ein „deutsches Label“ sein möchte: Internationaler in Sound und Ausdrucksweisen, über den Tellerrand hinausschauend. Lokal vernetzt, global in der Denkweise. Klingt gut, ist es auch!

Text: Lars Fleischmann

Ein Gespräch mit dem Oscar-Kandidaten Ozan Tekin über sein Album »Anarya« – und die Rolle, die ein altes Klavier darauf spielt.

Ozan Tekin

Ozan Tekin hat es vor bereits vor sechs Jahren aus seiner Heimat Türkei nach Bochum ans Folkwang Institut für Pop-Musik verschlagen. Noch während der Corona-Pandemie hat er dort im Jahr 2021 seinen Master gemacht. Unterdessen war er in und bei verschiedenen musikalischen Projekten (wie etwa Boddy) live und im Studio dabei. Daneben begann er seine Arbeit im Team von Volker Bertelmann (alias Hauschka). Der Wahl-Kölner Komponist und Musiker veröffentlichte zuletzt außerdem seinem Album »Anarya«. Mit diesem Album wird Tekin am Samstag, den 11. März 2023, in der King Georg Klubbar auftreten; bevor am nächsten Tag dann die Oscars verliehen werden. Noch vor dem ereignisreichen Wochenende sprachen wir mit ihm über »Anarya«.

Ich glaube, dass Dein Album »Anarya«, das Du im King Georg vorstellen wirst, zunächst einmal viel mit Deiner (Lebens-)Situation in Köln zu tun hat: Du bist in Adana geboren und über Istanbul, wo Du lange Zeit gelebt hast, nach Köln gekommen. Was hat Dich hierhergeführt?

Die Existenz und das Überleben als Künstler in einem Land mit vielen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konflikten wurden für mich sehr schwer. Deshalb suchte ich nach einem alternativen Umfeld/Ort, um weiterhin Kunst machen zu können, ohne Kompromisse einzugehen und meine Existenz als Künstler in Frage zu stellen. Deutschland war eines der Länder in Europa, das ich schon oft besucht hatte, und ich hatte eine gewisse Vorstellung davon. Zufällig sah ich die offene Ausschreibung des Folkwang Institut für Pop-Musik und bewarb mich. Sie nahmen mich an und ich zog 2017 von Istanbul nach Bochum. Als ich nach Bochum zog, hatte ich keine Ahnung von Köln, aber nachdem ich ein Jahr lang in Bochum gelebt hatte, fand ich mich in Köln wieder und lebe jetzt seit fast fünf Jahren hier.

Musikalische Bezugspunkte sind Aphex Twin, Bill Evans, Gustav Mahler, Radiohead, Vaqif Mustafazade und Charles Mingus. Diese Liste ließe sich fortsetzen.  

Ozan Tekin

»Anarya« bedeutet »rückwärts wandern«, wenn ich es richtig verstehe. Was bedeutet es für Dich im Allgemeinen? Was ist damit gemeint? 

Es gibt mehrere Gründe, warum ich das Album »Anarya« genannt habe.  Das Klavier, auf dem ich die Aufnahmen für »Anarya« gemacht habe, war ein sehr altes und kaputtes Klavier, das ich in meinem Studio mit viel Zeitaufwand reparieren musste. Die Pflege und das Spielen dieses Klaviers waren ziemlich anstrengend und inspirierend zugleich. Ich musste daran denken, dass ich mich um eine sehr alte Person kümmere, die bald sterben wird, und ich versuche, ihr in ihren letzten Tagen etwas Trost zu spenden. Je mehr Zeit ich mit dieser Person verbrachte, desto mehr erinnerte sie sich und ließ ihre Erinnerungen ein letztes Mal aufleben. Nachdem ich einige Monate mit diesem Klavier verbracht hatte, wurde mir jedoch klar, dass ich, je mehr ich Klavier spiele, auch einige Erinnerungen oder Gefühle aus meiner Vergangenheit wieder aufleben lasse. Dann wollte ich all diese Erinnerungen und Gefühle mit der transponierten Erzählung in »Anarya« zusammenbringen, die eine Geschichte über eine Rückwärtswanderung erzählt.

Und was hat das für Sie auf musikalischer Ebene bedeutet?

Nach vielen Jahren des Produzierens in verschiedenen Musikgenres ist es für mich sehr reinigend und therapeutisch, mich auf ein einziges Instrument zu konzentrieren, ein Klavier, das Instrument, mit dem ich angefangen habe, Musik zu machen, und nur damit Musik zu produzieren. Ehrlich gesagt stand es vor der Pandemie nicht auf meiner Agenda, ein solches Klavier-Album zu machen, aber die Umstände bestimmten meine Art zu produzieren. Ich bin froh, nach Jahren zu dem Instrument zurückzukehren, mit dem ich ursprünglich Musik gelernt habe, und mit ihm einen musikalischen Ausdruck und eine Erzählung zu schaffen, die intensiv, impulsiv und lehrreich sein konnten.

Gab es Idiome – zum Beispiel solche, die als »orientalisch« und »abendländisch« bezeichnet werden -, die Du umgehen wolltest? 

Ja, natürlich. Ich finde diese Begriffe in der heutigen Zeit in vielen Fällen ziemlich unzureichend und begrenzt. Als Künstler kann man sich sowohl von seinem Land und seiner Kultur inspirieren lassen als auch von irgendwo oder etwas anderem. Deshalb glaube ich nicht, dass Kunst unbedingt mit einem »Land« verbunden sein sollte, das man dann sofort als orientalisch oder abendländisch abstempelt.

Wie hast Du die musikalische Sprache der Platte gefunden?

Anarya hinterfragt vor allem das Gefühl der Zugehörigkeit, und ich glaube, das spiegelt sich auch in der Musiksprache wider. Die Mischung aus vielen Genres, Zeiten und Orten, die für mich inspirierend sind, definiert die musikalische Erzählung des Albums, die kaum einem einzigen Ort zuzuordnen ist.

Was waren deine musikalischen Vorbilder oder Bezugspunkte für das Album?

Aphex Twin, Bill Evans, Gustav Mahler, Radiohead, Vaqif Mustafazade und Charles Mingus. Diese Liste ließe sich fortsetzen.  

Du hast das Album mit einem alten Klavier aufgenommen, das für die Platte eine besondere Bedeutung hat. Was bedeutet es für dich in King Georg, auf einem anderen Instrument zu spielen?

Jedes Klavier klingt und fühlt sich natürlich anders an, und ich weiß, dass es unmöglich ist, auf dem Album denselben Klang zu erzielen, den ich bei den Konzerten mit diesem alten Klavier aufgenommen habe. Ich nehme jedoch an jedem Klavier meine eigenen Modifikationen vor, die mir dabei helfen, dass die Klaviere, die ich in den Konzerten spiele, näher an dem Klang liegen, den ich für das Album aufgenommen habe. Es wird mein erstes Konzert mit einem Flügel im King Georg sein, deshalb bin ich sehr gespannt und freue mich darauf.

Interview: Lars Fleischmann, Foto: Lucie Ella

Ein Gespräch mit dem Komponisten, Songwriter und Popstar Albrecht Schrader.

Albrecht Schrader

Albrecht Schrader ist ehemaliger (Co-)Leiter des Rundfunk Tanzorchesters Ehrenfeld – bekannt aus Funk und Fernsehen –und damals zu seiner Zeit in Köln war er ein mehr als gern gesehener Gast im King Georg. Vor allem ist er aber ein grandioser Alleinunterhalter alter Schule, der wie die anderen Hamburger Größen (Carsten Erobique Meyer oder Rocko Schamoni) viel Bock auf Musik hat und auf verdammt gut gemachte Unterhaltung setzt. Wie eine Mischung aus Hans Albers und Hildegard Knef textet und singt er auch auf »Soft«, seinem dritten Solo-Album.
Am Rande seines exklusiven Auftritts im King Georg (sonst konnte man ihn vorerst nur in der Heimat und der Bundeshauptstadt erhaschen) führten wir dieses Interview.

Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Seit deinem letzten Konzert, 2019, ist es das erste Mal, dass du wieder in Köln ein Konzert gibst – ganz schön lang eingedenk der Tatsache, dass du hier fast 15 Jahre gewohnt hast. Nehmen wir diesen Tag zum Anlass darüber zu reden, was dich damals nach Köln verschlagen hat.

Ich bin 2005 aus Berlin – nach einem echt doofen Jahr dort – nach Köln zum Studieren gekommen. Ich hatte in Berlin bei ein paar Pop-Sachen mitgespielt; aus denen wurde aber nichts. Und ich wollte dann weg. Köln wurde es dann eigentlich eher aus Verlegenheit: Der Numerus Clausus passte. Obwohl ich niemanden kannte, schien mir das eine bessere Wahl als Hamburg, wo ich einfach nicht studieren wollte. Ich bin dort in den Elbvororten groß geworden und wollte damals einfach nicht mehr zurück, sondern nur weg. 

Wenn du Elbvororte sagst, dann muss man das aus Köln wo genau verorten?

Die psychosozialen Elbvororte beginnen hinter Bahrenfeld. Dann kommen hauptsächlich Ein-Familien-Häuser.

Du hast in Köln Musikwissenschaften, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften sowie Klassische Literatur auf Magister studiert. Da sieht man – nun mal abgesehen von der Klassischen Literatur – immer noch Kontinuitäten in deinem Leben. Dazu kommen wir gleich. Wir müssen vorher noch erörtern, wie es dich dann auf die Bühne verschlagen hat. Vielen wurdest du in der Kölner Szene durch deine »Galerie Decadence«-Abende in der Baustelle Kalk bekannt.

Das war damals eine Fortführung der »Galanacht der Langeweile«, die auch schon in der Baustelle stattgefunden hatte. 2013 war das eine, offen gestanden stark von Studio Braun-Abenden beeinflusste, Schnapsidee, die ich auf die Beine gestellt habe, während ich noch für meine Magisterprüfung gelernt habe. Diese Paukerei fand ich furchtbar frustrierend und empörend; und aus Wut und Langeweile habe ich diesen Abend mit zwei, drei Ideen entworfen.

Der Ort, an dem wir hier gerade sitzen, hatte auch seinen Anteil, oder?

Ja, genau. Ich war vorher im King Georg zu Gast gewesen und hatte mit der Filmemacherin Nicole Wegener, die damals den Do It Yourself-Kulturort Baustelle Kalk gemacht hat,  gesprochen. Ich erzählte ihr von dieser Idee und wider Erwarten war sie total begeistert. Sie hat sich dann mit ihrer Baustellen-Partnerin Meryem Erkus abgesprochen – und wir haben dann diesen unglaublich lustigen, improvisierten Abend auf die Beine gestellt. Das wollten wir aber nicht einfach wiederholen und haben stattdessen eine Reihe daraus gemacht: Die Galerie Decadence.

Wie meintest du damals das Wort Decadence? Bezog sich das auf dekadente Bonzen oder eher auf das Baudelaire’sche Wort von der Niedergangsgesellschaft, die den Rausch der Moderne vorhergesehen hat: Also irgendwo zwischen Stimmung und Morbidität?

Ich sag es mal so: Ich komme aus der Hafen- und Kaufmannstadt Hamburg. Diese Stadt lebt immer noch von den Widersätzen. Ich habe Bilder im Kopf von der Fahrt mit dem elterlichen Mercedes, wo man noch die Türen verriegelt hat, wenn man über die Reeperbahn gefahren ist. 
In der »Szene« äußert sich das eher dandyhaft: Man geht im Vintage-Anzug, schick gemacht, in irgendeinen runtergekommen, ranzigen Laden. Diese Gegensätze mag ich bis heute gerne – und diese beiden Pole waren dann auch die Grundidee für die Reihe.

Kann man bestimmte Aspekte deines neuen Albums »Soft« ebenfalls in diese Richtung deuten? Dort hat man häufig das Gefühl, dass du ein Milieu abbildest, das zwischen High (»Cardigan of Love«) und Depression (»Donnerstags 8 bis 9«) lebt und nicht ganz damit zufrieden ist, wie die Welt eingerichtet ist.

Ich sehe mich nicht in der Lage, das große politische Lied zu schreiben. Was mich bewegt, schreibe ich von daher eher im Kleinen, von mir aus. Meine Herangehensweise für meine Musik ist, dass ich textlich versuche möglichst klein zu bleiben und das Große über die Musik zu erzählen oder zu lösen. Ich habe dafür einen musikalischen Paten gefunden: Den hervorragenden (Broadway-)Komponisten Steven Sondheim, der vor ein paar Monaten leider gestorben ist. Er war ein Meister darin, die großen Themen nur erahnen und dem Publikum durch kleine, präzise Songtexte genug Raum für ihre eigene Emotionalität zu lassen.

»Soft« ist ein besonderes Album, da es fast anachronistisch in seinem Aufbau ist. Ich will jetzt nicht sagen, dass es in dem Sinne ein Konzeptalbum ist, aber es erinnert sehr an die große Zeit des Pop-Songs in den 1970er Jahren. Man hat viele Balladen, dazwischen Up-Tempo-Nummern und dann die opulenten Werke. Da hört man klassische LPs der Carpenters, Burt Bacharach oder des frühen Scott Walker raus, oder?

Die genannten höre ich sehr gerne und die haben mich ganz bestimmt beeinflusst. Ich würde dennoch nicht sagen, dass das ein »Masterplan« ist oder war. Mir passiert es schlicht und ergreifend in 60-70% der Fälle, dass ich eine Ballade schreibe.
Das Album davor, »Diese Eine Stelle«, das war mit seiner klaren Themensetzung »Herkunftsscham« stärker an ein Konzept angelehnt. Das hat Spaß gemacht, aber war nun mal auserzählt. Diesmal hatte ich einige Lieder geschrieben und eher unterbewusst ist dann »Soft« dabei rausgekommen.

Kommen wir aber nochmal zu deinem Werdegang zurück: Wie hatte sich dein Gig beim Rundfunk Tanzorchester, der Böhmermann’schen Haus- und Showband, mit dem du deutschlandweit bekannt wurdest, ergeben?

Jakob Weiss, der bei der »Galanacht« gefilmt hat, aber sonst bei der Fernsehproduktionsfirma Bild- und Tonfabrik arbeitete, schlug mir vor, dass ich mal zu einem Casting für eine Ensemble-Comedy-Show gehe. Beim Casting selbst war es ein wenig unangenehm, weil ich ja auch kein Schauspieler bin … dennoch hat sich dann daraus ergeben, dass ich mit Jan Böhmermann zusammen Lieder geschrieben habe. Er schrieb die Texte und ich die Musik.

Der Rest ist Geschichte: Das Rundfunk Tanzorchester Ehrendfeld sollte schnell nach seiner Einführung schon ikonischen Status mit seinen Neu-Interpretationen erreichen. Du hast das für eine 15-Personen-Big-Band arrangiert …

Ich und Lorenz Rohde, mit dem ich die Arrangements realisiert habe, haben uns da gut ergänzt. Wir haben zwar beide nie »Arrangement« gelernt, aber wir haben das einfach gemacht. Unsere Interessen – bei ihm Funk und Soul, bei mir eher jemand wie Scott Walker halt – passten perfekt zusammen.

Ihr wurdet durch YouTube mit euren Interpretationen bekannt – durch den ein oder anderen Coup in der Sendung natürlich auch der ganze Komplex –, und dann hast du 2019 aufgehört mit diesem »Traumjob«. Von außen war es eigentlich ein Schock.

Ich hatte schon im Sommer 2018 entschieden aufzuhören. Das wurde nach und nach körperlich und psychisch sehr anstrengend – und ich kam nicht mehr dazu meine eigene Musik zu schreiben und zu spielen. Ich habe dann noch die Tour im Februar 2019 mitgenommen und dann schweren Herzens aufgehört.

Und dann kam auch der Wegzug aus Köln, Richtung Heimat Hamburg …

Das war gar nicht geplant. Ich wollte eigentlich noch in Köln bleiben, erfuhr dann aber, dass neue Räume für Musiker*innen in Hamburg entstehen – und ich wollte endlich mal einen richtigen Musikraum zum Arbeiten. Den hatte ich nämlich in Köln nie. Und dann bin ich bereits im Herbst 2019 zurückgezogen.

Kein halbes Jahr später kam die Corona-Pandemie … was hat das mit dir gemacht?

Das war, gelinde gesagt, doof. Ich hatte das Album »Diese Eine Stelle« noch in Köln fertig produziert und wollte in Hamburg ankommen, ausgehen, Menschen und die Szene kennen lernen – und dann war alles dicht. Am Tage der Lockdown-Verkündung kam das Master meines Albums an; was macht man da?

Wir haben dann kurzerhand das Album-Release in den Sommer vorverlegt. Es wusste ja keiner, wie sich die Musik-Industrie entwickelt, was noch alles passiert. Und wir dachten, dass es keinen Sinn ergibt, dann damit zu warten, sondern sagten »Jetzt erst recht«.

Hat diese Zeit der Entsagung die Grundstimmung auf »Soft« geprägt? Du singst viel über Verletzlichkeit.

Das ist eine gute Frage. Die ersten Songs, die entstanden sind, waren über Menschen, die ich wegen Corona nicht mehr so oft oder gar nicht sehen konnte. So ging die Arbeit los. Und das Thema »Verletzlichkeit«, das wollte ich schon länger anpacken: persönlich und als Musiker. Aber das war lange nicht en vogue, hatte ich das Gefühl. Derzeit und in den letzten Jahren gibt es eine neue Offenheit gegenüber solchen Themen. Da bin ich sehr dankbar.

Das muss künstlerisch dennoch passen; das wurde mir schnell klar. Kunst ist keine Bekenntnisplattform. Aber: Das Wort »Psychotherapie« singen zu können, ohne gleich in totaler Befindlichkeit zu landen, das fand ich sehr großartig.

Interview: Lars Fleischmann.

Der 70-jährige französische Komponist und Multiinstrumentalist Pierre Bastien kommt am 27. Januar mit seinen Maschinen ins King Georg.

Pierre Bastien

Die 1980er markieren den endgültigen Durchbruch der Maschinen-Musik. Damals wurden Synthesizer, Drum-Machines und Sampler unweigerlich zu gleichberechtigten Tools im Repertoire der Musiker*innen – die Hip-Hop- und Electro-Sounds des Samplers Akai MPC waren genauso gültig wie jene einer Gitarre und die Grooveboxen von Roland (808 und 909), sowie der Bass-Synthesizer 303 sollten unmittelbar an der Techno-Revolution beteiligt sein.
Heute hat man sich an allerlei gewöhnt: Manchmal steht nicht mehr als bloß ein Laptop auf einer Bühne und wenn ein*e DJ eine Plattentasche statt USB-Sticks anschleppt, dann hat das mindestens Seltenheitswert.
Das kann man unstylisch oder unsexy finden, vielleicht sogar albern; andere wiederum sehen in der fortgesetzten Weiterentwicklung und Synthetisierung musikalischer Quellen die normale Progressivität menschlicher Kultur. Für Pierre Bastien, so scheint es zumindest, sind solcherlei Diskussionen sowieso nebensächlich. Der französische Komponist, Musiker und Bastler hat sich bereits im Jahr 1976 davon verabschiedet das eine (die reale Soundquelle) gegen das andere (das synthetisch-elektronisch-digitale Instrument) auszuspielen: Im Sommer des Jahres entstand seine erste Klangskulptur. Seitdem baut Bastien kontinuierlich an einem mechanischen Orchester aus Maschinen. In Anlehnung an den Schriftsteller Karel Čapek nennen wir solche Erfindungen Roboter – auch wenn keine der Bastien’schen Basteleien, aus den Einzelteilen der englischen Miniatur-Firma Meccano, den Eindruck eines C-3PO oder des Terminators erweckt.


Vielmehr sind viele seiner »Musiker«, wie er die Maschinen nennt, einfache Kreationen aus wenigen Bauteilen und zwei, drei Motoren. Sie sind trotzdem mehr als bloß zweckdienlich: Ihre Klangerzeugung – Kämme werden geschrubbt, Hämmer geklopft – ist zirkular. Das Ergebnis: Ein Orchester voller Wiederholungen; man könnte auch Loops sagen. Die Schleifen nutzt Bastien dann um Kurzkompositionen und Vignetten aufzubauen. Kleinere Übungen, hochinteressante Einheiten von wenigen Minuten Länge.
Während er sein »Mecanium« genanntes Orchester aufbaut, spielt er als Multi-Instrumentalist auch in herkömmlichen Bands. Er steigt beim Bel Canto Orchestra des französisch-katalanischen Komponisten Pascal Comelade (selbst eine Legende der Post-Strukturalisten und Avantgarde-Jazzer) ein; ganz ohne seine Maschinchen, dafür mit seiner Piccolo-Trompete oder auch mal am Kontrabass. 

Auf der Aufnahme zu »Moments Du Bruits Pendant Le Naufrage« spielt er wiederum ein Plastik-Saxofon und das Cello. Im Bandgefüge des ebenso experimentell wirkenden Comelade kann sich Bastien austoben und -probieren. Vorher noch gründet er mit Bernard Pruvost die ebenso legendäre Band Nu Creative Methods.
Der Durchbruch in europäischen Avantgarde-Kreisen folgt derweil erst 1988, als sein erstes Solo-Album – wenn man hinsichtlich seiner Roboter überhaupt von solo reden kann – »Mecanium« erscheint. Zu dieser Zeit entwickelt er seine Live-Spielhaltung, die auch heute den »Ton angibt«: Hinter einem Tisch, der vollgepackt ist mit allerlei Maschinen, sitzt Bastien und spielt Trompete. Auch hier beherrschen Kurzformate die Szenerie, wenngleich unter Fans gerade seine längeren Stücke besonders beliebt sind. Im Zusammenspiel zwischen sukzessiven Loops und freiem Trompetenspiel entstehen Trance- und Traum-hafte Sequenzen voller schlichter Tiefe.

Die einzige wirkliche Gefahr für die Musik des Franzosen, der mit seinen 70 Jahren immer noch eine stets neue Hörer*innenschaft begeistert, besteht in steigenden Stromkosten.

In Deutschland wird Pierre Bastien besonders bekannt als er 1996 und 1997 mit Jaki Liebezeit – dem legendären Drummer der Kölner Krautrock-Band CAN – in die Manege steigt. »Ich habe Jaki vor besondere Aufgaben gestellt, als ich zwar vorschlug, dass wir auf Basis eines 12-Takt-Loops improvisieren sollten, meine Maschinen aber 12-1/2-Takte brauchten«, erzählte er vor Jahren der englischen Zeitung The Guardian.

Das Eigenleben der Maschinen ist gleichsam ihre größte Stärke: Unbeeindruckt von Software-Updates oder manueller Bedingung spielen diese Maschinen auch dann noch, wenn Computer-Viren die Welt längst lahmgelegt haben sollten. Die einzige wirkliche Gefahr für die Musik des Franzosen, der mit seinen 70 Jahren immer noch eine stets neue Hörer*innenschaft begeistert, besteht in steigenden Stromkosten. Die könnten der Musik den sprichwörtlichen Stecker ziehen … obgleich Bastien dann trotzdem immer noch etliche Instrumente spielen kann und genug Erfinder- und Bastlergeist hat, um ad hoc zu improvisieren.

Gleichsam soll nicht der Eindruck Bastien hätte sich seit den Achtziger und Neunziger Jahren nicht weiterentwickelt. So produktiv wie noch nie, veröffentlichte und erschien er auf ingesamt elf Platten in den letzten fünf Jahren. Namhafte Labels wie Other People (des hippen New Yorker Produzenten Nicolas Jaar) und Discrepant releasten seine Stücke; ebenso das Label des Brüsseler Kulturortes Les Ateliers Claus, Les Albums Claus.
Bastiens Karriere läuft und läuft und läuft; fast so, als wäre er selbst … eine Maschine.

Text: Lars Fleischmann

Der Bildende Künstler und Musiker Camillo Grewe spielt am 13. Januar in der King Georg Klubbar sein erstes Solo-Konzert.

Camillo Grewe

Camillo Grewe treffen wir an einem herbstlichen Nachmittag im Winter zu einem Tee, da er dieser Tage ein Konzert im King Georg spielt. Betont sei: Es ist sogar sein allererstes Solo-Konzert. Bis dato kennt man den 1988 geborenen Grewe vor allem als Bildenden Künstler, der bereits Erfolge – wie zum Beispiel das Friedrich-Vordemberge-Stipendium der Stadt Köln – verzeichnen konnte.
Nebenher gab es derweil immer auch musikalischen Output. Diese zwei »kreativen Kanäle« sind seit der Kindheit angelegt. »Ich habe seitdem ich sieben oder acht Jahre alt war Klavierunterricht gehabt«, resümiert er heute, »und gleichzeitig auch immer gemalt und gezeichnet. Es gab immer beides.«
Später dann, zu Oberstufenzeiten, entschied er sich einstweilen für die Karriere als Künstler: »Ich nahm damals Abstand vom Klavier.«

Besondere Klänge

KlängeDas Handtuch wollte Grewe dennoch nicht werfen. Eine CD des Jazz- und Rockgitarristen John McLaughlin, die er seinem Bruder geschenkt hatte, wies ihm einen neuen Weg. Schon länger hatte ihm sein Klavierlehrer geraten, sich doch den Percussions und dem Schlagzeug zu widmen – McLaughlins Ausflüge in die klassische indische Musik war nun ein willkommener Anlass. »Das war eine Platte mit Zakir Hussain – einem bekannten Tabla-Spieler«. Das Projekt hieß Shakti, und Grewe war vom Sound der traditionellen, nordindischen Trommel angetan. »Ich fand diese Musik superspannend. Ich habe dann gesehen, dass es auch einen Tabla-Lehrer in Münster gab, wo ich damals gewohnt habe. Ich habe fünf Jahre Unterricht gehabt«, erzählt er und erklärt als nächstes die besondere Spielweise: »Die einzelnen Schläge werden lautbildlich gesprochen – eine eigene Erfahrung.« Diese Bols, wie sie heißen, werden entweder beim Spielen oder statt des Spielens auf der Tabla angestimmt: tun na dha ti dha ge dhin na
Auch heute interessiert er sich für Instrumente, die einen eigenen Klang besitzen und meist übersehen werden. Gerade auch sogenannte »Kinderinstrumente« (wie Melodica, Blockflöte oder Glockenspiel) tauchen in seiner Musik immer wieder auf. Das gilt auch für das Konzert im King Georg.
Doch weiter will er sich nicht in die Karten blicken lassen: »Die Leute sollen unvoreingenommen das Konzert besuchen. So viel sei nur gesagt: Es wird vielleicht klassischer beginnen und dann einen Transformationsprozess durchlaufen.«

Konzerte sind für Camillo Grewe keine Neuheit. Gerade mit seiner Band Fragil tritt er seit 2011 regelmäßig live auf. Damals habe man sich auf Anraten des Düsseldorfer Künstlers Alex Wissel zur Band zusammengetan. Wissel, der heute sehr gefragt ist und unter anderem durch seine Arbeiten mit dem Düsseldorfer Regisseur Jan Bonny auch einem Mainstream-Publikum bekannt wurde, hatte damals seine »Single-Club«-Reihe ins Leben gerufen: 24 Stunden währende Happenings zwischen Performance, DJ-Sets, Konzerten von Laien, Amateuren und Profis – sowie jede Menge Wahnsinn. Fragil wurde zur »Hausband« dieses ausladenden Spektakels.

So viel man damals spielte – fast monatlich – , so sehr machte man sich auf Platte rar. Das gilt bis heute. Gerade mal drei Platten sind in über zehn Jahren entstanden. Das bisher letzte Album »Hallo Ich« ist produktionstechnisch am ambitioniertesten, professionellsten und bietet einen Post-Kraut-Indie-Pop-Sound entsprechender Güte. Genauso eigen, dafür eher Lo-Fi sind die Stücke des letzten Albums „Motivation“. Allen Songs gemein: Man kann und darf sie gerne als „artschooly“ im besten Sinne bezeichnen. Kein Zufall eingedenk der Tatsache, dass alle Beteiligten tatsächlich an einer Kunstakademie studiert haben.

Eine eigene Notation

Auch beim Konzert könnten Fragil-Songs gespielt werden – nur diesmal alleine: »Es war spannend, das erste Mal solo an den Stücken zu arbeiten. Die Arbeit in einer Band ist manchmal nervenaufreibend. Es dauert natürlich länger, bis ein Song entsteht und fertig ist. Diesmal hat es sich eher angefühlt wie die Arbeit im Atelier als Künstler.«
Fragil sei für ihn eine Sache der Attitude: »Ich spiele da ein paar Akkorde und dazu zwei, drei Töne. Alles minimal, was die Komposition angeht. Ich liebe es, klare Melodien aus wenigen Tönen zu behaupten.« Dieser Gitarren-Indie-Sound wird von der Band selbst liebevoll als »Proseccopunk« bezeichnet. Irgendwie widerständig, leicht krawallig, in der Lage, mit wenigen Akkorden nachhaltig Eindruck zu machen, aber eben keine Bande von »Schreihälsen«.

Darüber hinaus gibt es vielfältige musikalische Ausflüge: Für die Oper »Cupid and the animals« von Agnes Scherer, die von der New Yorker Galerie TRAMPS in Auftrag gegeben wurde, hat Grewe die Musik komponiert. »Klavier, 2 Blockflöten, 3 Sänger, 2 Flamencotänzer und ein Dudelsack – dafür habe ich mir eine eigene Notation ausgedacht, da ich selber nicht besonders gut beziehungsweise flink im Notieren bin. Die sehr bildhafte, zeichnerische Notation habe ich den Musikern (in dem Fall vor allem den Blockflötistinnen) erklärt.« Die Oper wurde in Folge sowohl im BAM (Brooklyn Academy of Music) in New York, als auch im Museum Ludwig in Köln aufgeführt.

Ebenso ambitioniert war das musikalische Projekt »Konzert für 13 Vögel«, das Grewe auf Einladung der Gruppe Hall & Rauch mitkomponierte. Heute heißt die Komposition »Psychoreo«. An der historischen Grenze zur Corona-Pandemie entstanden, wurde das Konzert erstmals in der Philharmonie im Jahr 2021 aufgeführt: »Als das Konzert Corona-bedingt um ein Jahr verschoben wurde, entschieden wir das Ensemble um ein Streicherquartett zu erweitern. Daraufhin schrieb ich über ein 3/4-Jahr gemeinsam mit Malte Priess (Gitarrist der Band) die Streichersätze für die Songs.«
Im King Georg sollen, das verrät Grewe zum Ende dann doch, all diese verschiedenen Projekte und Bands und Songs kumulieren: »Ich habe für das Konzert alte und neue Songs zusammengebracht. Für Leute, die meine Musik kennen, wird es ungewohnt düster und persönlich.«

Text: Lars Fleischmann

Gründer Samy Ben Redjeb und sein Label Analog Africa graben seit Jahren Musik vom afrikanischen Kontinent aus – und erforschen darüber hinaus transkontinentale Spuren.

Samy Ben Redjeb

Nach fünf Jahren haben sich Musiklabels etabliert, nach zehn Jahren werden sie zu Institutionen und nach 15 Jahren bietet sich das Wort »Legende« an. Und am Anfang jeder guten Legende steht ein Held – jemand, der sich gegen Widerstände durchzusetzen hat.
Beim Label Analog Africa heißt dieser Held Samy Ben Redjeb und seine Geschichte beginnt als Teilzeit-DJ. Damals, wir reden um eine Zeit rund um das Jahr 2000, sammelte Redjeb Platten, legte auf, es wollte aber nicht reichen. Also suchte er sich einen Teilzeitjob und arbeitete als Tauchlehrer. Irgendwann verschlug es ihn in dieser Funktion in den Senegal. 

Dort, genauer in Dakar, fiel ihm eine Platte aus Simbabwe in die Hand – spontan entschließt er sich dieser Platte nachzuforschen. Er fliegt nach Harare. Was folgt ist die Geburtsstunde des Labels »Analog Africa«. Die Entscheidung für ein Label mit den Entdeckungen, die fiel wohl relativ schnell: The Green Arrows und die Hallelujah Chicken Run Band – zwei Bands aus dem südafrikanischen Land landen auf CDs. Der Erfolg blieb aber aus.

Aufklärung durch Labelarbeit

Warum die Songs aus Simbabwe beim Publikum anfänglich durchfielen, das lässt sich heute nur noch schwerlich erörtern. Das hat zwei Gründe. Tatsächlich gibt es verhältnismäßig wenig Berichte und Reviews aus der Zeit zu den frühen Aktivitäten von Analog Africa. Außerdem hören wir heutzutage anders in Musik des afrikanischen Kontinents rein. Daran hat Redjeb und sein Label großen Anteil – zusammen mit dem Musik-Ethnologen Brian Shimkovitz (»Awesome Tapes From Africa«) hat er unser Verständnis für Musik aus Mali, Kamerun und eben Simbabwe überhaupt erst ausgegraben, geformt, aufgeklärt und zur Diskussion gestellt.

Früher war alles Weltmusik

Wir denken zurück: Bis Mitte der Nullerjahre war Musik aus Afrika – und da reden wir wirklich über den ganzen Kontinent und nicht als illegitime Generalisierung – subsumiert im Genre »Weltmusik«. Afrikanische Künstler*innen von Weltrang konnte man an einer Hand abzählen: Miriam Makeba oder Hugh Masekela kannten die Aufgeklärteren, bei Mulatu Astatke und Fela Kuti wurde es schon eng. Erst mit Redjeb und Shimkovitz hat sich eine Offenheit hierzulande und im gesamten europäischen und nordamerikanischen Raum eingestellt. Künstler*innen und ganze musikalische Genre, die heute zum Inventar gehören, haben hier ihren Ursprung.

Aber zurück zur Geschichte und den konkreten Umständen beim Label aus Frankfurt: Schon 2008 sollte der Durchbruch nämlich anstehen. Zwischendrin stieß Redjeb bei einem Halt in Benin nämlich auf einen wahrhaftigen Schatz. Er hatte mittlerweile als Flugbegleiter der Deutschen Lufthansa angeheuert, was einen enormen Vorteil mit sich brachte: Er sah die Welt. Und wer die Möglichkeiten nutzt und die nötige Prise Glück auf seiner Seite hat, der macht vielleicht eine folgenschwere Entdeckung. 
Regelmäßig flog er Ziele an der Goldküste im westlichen Afrika an: Ghana, Nigeria, Kamerun etc. – und dort traf er immer wieder auf obskure Musik, die ungehört schien, unbekannt sogar. Im Benin stieß er dann auf jene Plattenkisten, die später zu den Veröffentlichungen »African Scream Contest«, »Legends Of Benin«, »Orchestre Poly-Rythmo De Cotonou – Echos Hypnotiques« werden sollten. Die Kritiker*innen waren hin und weg – diese Musik, irgendwo zwischen Volksmusik, Schlager und Trance-Ritual, schlug ein, wie eine Bombe, wirkte ganz neu und ungemein faszinierend.

Vollends seinen internationalen Durchbruch feierte das Label dann jedoch erst mit der »Afro-Beat Airways«-Reihe. »West African Shock Waves« war etwas konventioneller als die Vorgänger-Platten, traf umso mehr den Zeitgeist und steht heute nicht nur bei sogenannten Nerds, sondern selbst bei Saturn im Plattenregal.

Die Welt ist viele Scheiben

Fortan war Analog Africa nicht nur ein kleines, krudes Label, sondern wurde zu einer Maschine. Mittlerweile zählt man 95 vollwertige Veröffentlichungen. Bevor man dann mit der Nummer 100 sein großes Jubiläum feiert, besucht das Label am 17. September noch das King Georg

Man kann wohl eine kunterbunte Abfahrt erwarten, hat das Label nicht nur den Riesenkontinent vermessen und immer wieder spannendes, emotionales, sondern meist sehr Tanzbares ausgegraben. Und der Atlantik wurde auch bereits gekreuzt, um transkontinentale Spuren zu erforschen.

Deswegen nochmal zum »Vorglühen«, wie man heute so sagt, der Lieblingssong des Autoren in Videoform:

Text: Lars Fleischmann.

Vielleicht ist traumwandlerisch die beste Beschreibung für die Musik von C.A.R. Ähnlichkeiten mit legendären Bands der Popgeschichte sieht man durchaus selbst – aber sehr gelassen.

C.A.R.

Manchmal sind die Ähnlichkeiten so frappierend, dass man gar nicht mehr weiter darüber nachdenkt, ob es überhaupt welche sind.
Wer die Monumentalband des deutschen Krauts, CAN, im Hinterkopf hat, der wird ohne Frage leicht Verbindungen zur Kölner (und Berliner) Projekt C.A.R. ziehen können. CAN – CAR.

C.A.R. sind dennoch nicht bloß Apologeten des besten Kölner Exportprodukts, seit Johann Maria Farina das Kölnisch Wasser erfunden hat. Das wäre auch gar nicht möglich, wie Johannes Klingebiel, Drummer und verantwortlich für die meisten Tracks der Band, sagt: »Wir wollen und können das gar nicht reproduzieren, was CAN damals gespielt haben. Ich bin zum Beispiel ein ganz anderer Typ Drummer als es Jaki Liebezeit war. Selbst wenn ich wollte, würde etwas unterschiedliches entstehen.«
Ganz klar: C.A.R. sind eine Band, die einen eigenen Sound hat, ein eigenes Gefühl für Timing und Atmosphäre – und daran in den elf Jahren ihres Bestehens auch kontinuierlich gearbeitet hat. Wobei sich in den luftigen Settings und transparenten Tracks sich nur ganz bedingt etwas wie »Arbeit« anhört. Gerade auf ihrem letztjährigen Neuling »Any Percent« geht der Band der eigene Sound so locker aus den Fingern, dass sie selbst in traumhafte Gründe abrutscht.
Kein Wunder also, dass man gerade erst beim Achtbrücken-Festival ein Programm spielte, das sich mit den Bewusstseinszuständen im Prozess des Einschlafens auseinandergesetzt hat.

»Am Anfang war alles sehr wild. Laut, verzerrt, schnell … viele Effekte«

Vielleicht ist »traumwandlerisch« auch die beste Vokabel, um die Musik zu beschreiben, die C.A.R. spielen. Andere Genrebezeichnungen können durchaus passen – die Bezüge zu Kraut und Jazz sind offensichtlich -, dennoch haben sie einen charakteristischen Sound entwickelt, der sich nur schwer einengen lässt. Es gibt starke Verbindungen hin zu Soundtrack-Klängen, zu melancholischem Indie-Jazz, sogar zu den (atmo-)spärischen Stücken von Bohren & der Club of Gore und anderer Doom-Jazz-Bands.

Warum sie so wesensgemäß klingen, hat auch mit ihrer Geschichte als Band und Musikern zu tun: Alle vier Mitglieder, neben Johannes Klingebiel sind das Leonhard Huhn (sax), Christian Lorenzen (keys) und Kenn Hartwig (bass), studierten einst gemeinsam an der Hochschule für Musik und Tanz. Pünktlich zum Diplomkonzert des Drummers Klingebiel und des Bassisten Hartwig gründete man die Combo. Klingebiel erinnert sich: »Wir kannten uns alle aus dem Studium, da man auf Grund des kleinen Jazz-Studiengangs eh einen Überblick hat mit wem man studiert. Und auch weiß, mit wem man klickt und mit wem nicht.« So habe sich die Band nach dem Konzert auch nicht aufgelöst, sondern einfach weitergemacht. »Am Anfang war alles sehr wild. Laut, verzerrt, schnell, viele Effekte“, erzählt er weiter, „das hat sich aber nach und nach gewandelt zu dem Sound, den wir heute machen.

C.A.R. live im King Georg, 2020, Teil 1


Wer nun eine der fünf erhältlichen Platten auflegt, oder ein Konzert besucht, der erlebt etwas anderes.  Jazz sticht manchmal durch, obwohl man, wie Huhn klarstellt, »mittlerweile sehr weit weg ist von der Idee: Da ist ein Jazz-Quartett und das spielt nun ein Konzert!« Vielmehr habe sich über die Ablehnung der Diktate aus dem Studium, die sie stets genervt hätten, ein eher intuitiver Entwurf herauskristallisiert. Statt der Band, die den Grund legt und den Solis, die »darüber genagelt werden« (Klingebiel), spiele man jetzt in einem anderen, gemeinsamen Jam, wo jeder Bandgefüge sei und sein eigenes Ding spielen könne. So entstehe etwas anderes.

Dieses andere ähnelt dann eben den Ahnen von CAN. Leonhard Huhn sieht die Parallelen – aber gelassen: »Irmin Schmidt und Holger Czukay von CAN haben auch in Köln studiert – bei Karlheinz Stockhausen. Und dann mit ihrem Wissen aus dem Studium wiederum einen anderen Sound spielen wollen.« Man komme auch nach fast 60 Jahren, die dazwischen liegen, zu ähnlichen Ergebnissen. Das sei vielleicht der Gang der Dinge, der sich eben mit einigem Abstand wiederhole.

C.A.R. live im King Georg, 2020, Teil 2

Was aber unverkennbar an der neuen Kölner Traditionslinie sei: Die Errungenschaften elektronischer Musik sind wie selbstverständlich inkorporiert. Gerade Klingebiel, der auch als DJ, Produzent und Labelmacher auftritt, besitzt ein Wissen und Gefühl für Synthesizer-Settings und -Sounds, für aktuelle Entwicklungen und Verknüpfungen – wie man sie zum Beispiel auch von international sehr erfolgreichen Combos wie dem Portico Quartett oder Go Go Penguin kenne. Oder eben erst aus dem letzten Jahr als die Saxophon-Legende Pharoah Sanders mit dem englischen Elektro-Tüftler Floating Points eine viel gefeierte und prämierte LP ablieferte.

Bei C.A.R. gibt es darüber hinaus diese idiomatische Note, die man als psychedelisch bezeichnen muss. Diese habe sich, so bestätigt die Band, wie von selbst entwickelt – während der gemeinsamen Jams, die eben nicht angeleitete sind und somit Platz lassen für die jeweiligen Interessen und Vorlieben der einzelnen Mitglieder. Wie schon andere Bands in den letzten 30 Jahren lassen sich die vier Musiker von C.A.R. an ihren rheinischen Vorgängern messen – gleichzeitig nutzen sie es, um sich der eigenen musikalischen Positionen und Ausdrücke zu versichern und immer wieder in Kontakt mit der eigenen Sprache zu treten. Das geht gerne auch Hand in Hand: »Any Percent« nahm man zusammen mit René Tinner auf, dem Schweizer Tonmeister und Produzenten, der das CAN-Studio in Weilerswist leitete und einer der wichtigsten Architekten des rheinischen Krautklangs war.

So ist sichergestellt: Auch in ein oder zwei Jahrzehnten werden sich Bands aus dem Rheinland mit Vorgängern auseinandersetzen müssen. Diese heißen dann eben C.A.R. – Kölner Traditionen 2.0.

Text: Lars Fleischmann. Foto: Frederike Wetzels