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Elefanten nicht vergessen

Ein Trip nach Berlin Ende August und ein Gespräch mit Jennifer Beck, Fabian Ebeling und Steffen Greiner über das Buch »Liebe, Körper, Wut & Nazis«


Fabian Ebeling, Steffen Greiner, Jennifer Beck, Mads Pankow

Es ist ein merkwürdiger Tag, um über ein Buch mit dem Titel »Liebe, Körper, Wut & Nazis« zu sprechen. In Berlin steigt jene großangelegte Anti-Corona-Maßnahmen-Demo samt Rummeltechno-Wagen, zu deren Ausklang ein Haufen Demonstrant*innen versuchen wird, das Reichstagsgebäude zu stürmen. Die Erinnerung daran ist schon ein wenig zerfranst, und das tägliche Newsgeschäft frisst fleißig immer neue Löcher hinein wie Motten in die Klamotten im Schrank. Andererseits werden die jüngeren Nachrichten-Bilder in jeder Hinsicht deutlicher. Einer Stürmung durch den rechten Mob mittels roher Gewalt bedarf es gar nicht, so dürfte den Letzten klargeworden sein, wenn die Schwelle schon auf demokratischem Weg überschritten wurde. Die AfD sitzt drin im Bundestag und ließ im November Gegner*innen der Corona-Regulierungen als »Gäste« einfach mal reinspazieren.

Hätte man Ende August vielleicht schon ahnen können, die Pointe. Inmitten der Demo im Sonnenschein fühle ich mich noch wahlweise wie auf dem Karneval der Reichsbürger*innen oder einer Freiluft-Messe für esoterische Sinnstiftungsangebote. »Love & Peace«–Claims sind allgegenwärtig wie Familien in T-Shirts mit »Widerstand«-Aufdruck. Eckenprediger*innen beten Verschwörungstheorien und die Verteidigung der Grundrechte vor. Ja, viele hier behaupten, es ginge ihnen um Liebe, sie haben ganz offenbar Wut im Bauch, die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist den zahlreichen Impfgegnern und Masken-Verweigerern verdammt wichtig – und letztlich machen sie mit Neonazis gemeinsame Sache, oder sind halt selber welche. Die zunächst etwas beliebig wirkende Auswahl der Themen, die Jennifer Beck, Steffen Greiner, Fabian Ebeling und Mads Pankow für ihren im Buch abgebildeten Email-Talk gewählt haben, erscheint mir angesichts der Realität rund um die Bannmeile plötzlich sehr viel naheliegender. 

Die Epilog – Zeitschrift für Fragen, Antworten, Pointen und überraschende Wendungen zur Gegenwartskultur

Ich bin dann auch sehr froh, als ich diese irre Masse hinter mir lassen kann. Mein Weg führt nach Kreuzberg, wo sich das Büro des Magazins Die Epilog befindet. Hier kreuzen sich die Lebenswege von Beck, Greiner, Ebeling und Pankow durch die jahrelange gemeinsame Arbeit an der Zeitschrift zur Gegenwartskultur. Aber im Buch geht es nicht um den Job sondern um ihre Freundschaft. Auf deren Grundlage wollen sie diese zugleich auf die Probe stellen. So verstehe ich jedenfalls ihr Versprechen, einander alles zu erzählen, wie es im Vorwort heißt. Klingt riskant. Anfangs frage ich mich, ob so ein Konzept womöglich sogar das Auseinanderbrechen eines Freundeskreises zur Folge haben könnte. Die Sache hat viele Haken. Ich denke auch, »Liebe, Körper, Wut & Nazis« muss schon durch die Prämisse ein Buch über das Schreiben selbst sein. Einer geäußerten unangenehmen Wahrheit geht doch meist die Frage voraus, wie genau man sie erzählen könne. Kennt jedes Kind. Sie wird auch mal rausplatzen, aber eigentlich kaum, wenn man sich Emails schreibt. Schon eher, wenn man nachts zusammen am Tresen sitzt. Dass die Form der Unterhaltung über eine räumliche Distanz jetzt so zeitgemäß wirkt, ist eine Laune der Geschichte. Das Buch ist ja keine Reaktion auf Kontaktbeschränkungen. Die fürs Frühjahr geplante Veröffentlichung wurde wegen des ersten Lockdowns auf August verschoben.

Bei der Lektüre im Zug musste ich an frühe TV-Erfahrungen denken. In den 1980ern war ich großer Fan der Serie »Fame« um die Absolvent*innen einer New Yorker Schule für darstellende Künste. In einer Lieblingsfolge entscheiden zwei der Schüler*innen, einen Tag lang nur die Wahrheit zu sagen. Warum? Sie sollen im Schauspielunterricht ihrem Lehrer ins Gesicht sagen: »I love you!« – voller Überzeugung, dass es wahr ist. Die beiden scheitern und fühlen sich herausgefordert. Das Versprechen der Autor*innen von »Liebe, Körper, Wut & Nazis« wiederum beinhaltet den Zusatz, der Wahrheit im Buch stets näher zu sein als der Lüge. Besagte »Fame«-Episode schickt die ehrlichen Held*innen übrigens von einer misslichen Lage in die nächste. Viel wichtiger ist aber die Story um den verschrobenen Musiklehrer Benjamin Shorofsky, der am Ende in einem Brief gesteht, wie sehr ihm die Schule am Herzen liege. Ich habe es immer so verstanden, dass man wie Shorofsky in einem Text der Wahrheit leichter auf die Spur kommt als beim Reden. 

»Liebe, Körper, Wut & Nazis – Wie wir beschlossen, uns alles zu sagen«, Klett-Cotta, 20 Euro

Also geht es beim Schreiben nicht sowieso immer darum, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen? Warum dann überhaupt dieser Vorsatz? Das will ich von der Runde wissen, in der nur Mads Pankow fehlt, Politikberater und ehemaliger Epilog-Herausgeber. Jennifer Beck, Redakteurin beim Missy Magazine und Redaktionsleiterin der Epilog, sieht mich auf dem Holzweg: »Ich habe festgestellt, dass dieses Buch mir einen Möglichkeitsraum bietet, in dem es andersherum funktionieren kann. Weil ich eine riesengroße Angst hatte vor den Passagen, die meine Kindheit betreffen. Angst, dass ich mich falsch erinnere und meine Eltern mich darauf hinweisen. Beim Schreiben habe ich gemerkt, dass es im Kontext des Buchs völlig egal ist, ob ich mich richtig oder falsch erinnere, Teile weg lasse oder unbewusst hinzu erfunden habe. Ich konnte die Angst ablegen, etwas Falsches zu sagen über meine Vergangenheit.«

An der Stelle fiel uns gleich auf, dass man in Haarspalterei verfallen kann, wenn man mit heißen Eisen wie »Wirklichkeit« hantiert, oder »Wahrheit«, die auch in einer falsch erinnerten Tatsache stecken kann. Allerdings liegt in Jennifer Becks Antwort bereits ein Schlüssel zum Verständnis des Buchs. »Liebe, Körper, Wut & Nazis« ist kein Glossar der Gegenwart, das die titelgebenden Begriffe für eine Generation definieren will, wobei es Anschlüsse an den Zeitgeist und einen generationellen Zusammenhang unter den allesamt im Popkulturbetrieb tätigen Autor*innen durchaus gibt. Beck ist Jahrgang 1988, die anderen 1985. Moment… Pop, Generation, Talk, war da nicht mal was? Ja schon, große Ähnlichkeiten mit dem popkulturellen Quintett, das zur Jahrtausendwende die »Tristesse Royale« beschwor, kann ich bei genauer Betrachtung aber nicht erkennen. Auch wenn es 1999 hieß: »Wir erinnern uns, wie es uns gerade gefällt. Würde man es nicht erlauben, einige wenige Lügen hinzunehmen, ich weiß nicht, wie man jemals die Vergangenheit ertrüge.« Wahrheit, Wirklichkeit…you name it.

Während die fünf Herren, Namen vermutlich nicht bloß der Redaktion bekannt, hier sowieso egal, damals jedoch Wert auf Distinktion und Distanzierung legten, geht es in »Liebe, Körper, Wut & Nazis« um banale Fragen, die üblicherweise als »Elefant im Raum« (Beck) stehen, im Freundeskreis jedoch selten diskutiert werden. Und das oberste Ziel ist die Annäherung. Auch aneinander. Die Auseinandersetzung soll nicht nur wunde Punkte berühren, sondern zärtlichere Berührungen möglich machen, dämmert mir. Könnte passen. »Zärtlichkeit« war ja auch das Thema einer der letzten Epilog-Ausgaben. 

Die Vier mussten sich jedenfalls selbst erst mal rantasten. Eigentlich hatten sie eine Anthologie mit Epilog-Texten im Sinn gehabt, als der Verlag ins Spiel kam und vorschlug, etwas Neues zu machen. Eins führte zum anderen. Das Prinzip, die Freund*innen mit alltäglichen Fragen zu konfrontieren, die man sich ansonsten eher nicht stellt, ist dann Steffen Greiner, Autor, Dozent, Journalist und ebenfalls Epilog-Redaktionsleiter, in einer Wartschlange gekommen. Die Auswahl der vorgegeben Begriffe habe sich allmählich herauskristallisiert und sei zugegeben etwas »schlagzeilig«, wie es Jennifer Beck formuliert, der Umgang damit aber bleibt sensibel. Für mich ist es spannend zu beobachten, wie unterschiedlich die Auffassungen der Beteiligten über das Resultat des Prozesses sind; die Ergebnisse eines Spiels mit festen Regeln, innerhalb dessen sie jeweils sieben Tage Zeit hatten, um auf Sticheleien wie »Sagt man noch ›Ich liebe dich?‹« zu reagieren. Fabian Ebeling, freier Redakteur, Autor und Mitherausgeber der Epilog erklärt, dass man andauernd uneinig gewesen sei, ob es sich eher um ein Sachbuch oder ein fiktionales Buch handele, während Jennifer Beck klarstellt, sie habe von Anfang an literarische Texte beitragen wollen.

Vier Freund*innen im Selbstversuch, der Wahrheit näher zu kommen als der Lüge

Erscheint die Zusammensetzung der Autor*innen auf den ersten Blick nicht sehr divers, so stecken die Unterschiedlichkeiten doch in mehr als einem Detail. Abgesehen von abweichenden Temperamenten, die sich im jeweiligen Duktus äußern (ja, Ebelings und Pankows Beiträge wirken verkürzt ausgedrückt »sachlicher«), bleibt bei mir hängen: Anders als Jennifer Beck, die in ihren Texten keine Inszenierung im Sinn gehabt habe, stellt Steffen Greiner klar, dass er bewusst eine Kunstfigur schaffen wollte. Dabei ist ihm ein leidenschaftlicher »Wut«-Text über das ewige Verlangen gelungen, mal für die Spex zu schreiben. Hier zieht jemand blank angesichts eines Problems, das vielen nebensächlich erscheinen dürfte, und doch einiges über allgemeingültige Mechanismen des Kulturbetriebs verrät – und dazu eine schmerzhafte Kluft zur Mitautorin und Ex-Spex-Redakteurin Beck verdeutlicht. Schmusekurs adieu, wie an so mancher Stelle! Das gefällt mir, so wie die vielen Selbstzweifel und Versuche der Selbstkritik im Buch. Geständnisse. Unsicherheiten. Vielleicht auch, weil mir »Tristesse Royale«-Selbstgefälligkeiten immer fern waren. Wenn ich mich recht entsinne. 

Letztlich bleibt es für mich aber ebenso schwierig, »Liebe, Körper, Wut und Nazis« final einzuordnen, wie das zweistündige Interview mit Jennifer Beck, Fabian Ebeling und Steffen Greiner im Epilog-Büro adäquat zusammenzufassen. Aber während mich beim Lesen die kollidierenden Ansätze der Autor*innen teilweise verwirrt haben, so empfand ich sie schon im Verlauf des Gespräch als gelungene Denkanstöße, auch weil mir beim Reden übers Schreiben nicht nur Antworten gegeben wurden, sondern neue Fragen hinzukamen. Eine Gewissheit aber zumindest nehme ich mit: Der Freundschaft der Vier hat das Buch offensichtlich nicht geschadet. Vielleicht sollte man einfach öfter über den »Elefanten im Raum« sprechen. Es ist gut für einen selbst – und es ist gut für andere. Dieser feine Zusammenhang erscheint mir wichtig, gerade an diesem Tag in Berlin.

Text: Wolfgang Frömberg, Autor*innen–Fotos: Julia Grüßing

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