Mary Lou Williams’ 110. Geburtstag
Runde Geburtstage. Todestage. Jahrestage. In dieser Rubrik erinnern wir an Musiker*innen der Jazz-Geschichte und an herausragende Jazz-Ereignisse.
Am 8.5.2020 war der 110. Geburtstag der Pianistin, Komponistin und Arrangeurin Mary Lou Williams (1910 – 1981), einer maßgeblichen Wegbereiterin für Frauen im Jazz jenseits der Rolle als Sängerin. Biografische Informationen sind entnommen aus der im Jahr 2000 erschienenen Biografie »Morning Glory« von Linda Dahl:
Mary Lou Williams wurde als eines von elf Kindern am 8. Mai 1910 in Atlanta, Georgia, als Mary Alfrieda Scruggs geboren und wuchs in Pittsburgh, Pennsylvania auf. Ihre Mutter sang in ihrer Freizeit Spirituals und spielte Ragtime auf Klavier und Orgel. Schon mit drei Jahren soll Mary Lou Williams angefangen haben, die Musik autodidaktisch auf dem Klavier nachzuspielen und wurde bald als Wunderkind-Pianistin herumgereicht.
Als Teenager erlebte sie erste Big Band Konzerte und darin die Arrangements von Don Redman. Mit 16 heiratete sie den Saxofonisten John Williams und trat fortan unter dem Namen Mary Lou Williams auf. Bereits 1927 machte sie erste Plattenaufnahmen mit einer Sängerin, 1929 dann auch als Pianistin unter eigenem Namen.
1929 ging sie mit ihrem Mann nach Kansas City und wurde Pianistin in Andy Kirk’s Twelve Clouds of Joy, einer lokalen Big Band. Bald lieferte sie auch Kompositionen und Arrangements für die Band. Hier ihr Stück »Mary’s Idea« 1936 mit einigen Fotos:
Ab 1936 trat die Band in ganz Nordamerika auf. Parallel engagierte der damals ungemein populäre Benny Goodman Mary Lou Williams als Arrangeurin und wollte sie exklusiv anstellen, doch das lehnte sie als zu einengend ab. Hier spielt Goodman ihr Stück »Roll’em« 1936:
1939 arbeitete sie als Pianisten und Arrangeurin mit der Sängerin Mildred Bailey, hier mit »Arkansas Blues«:
1942 verließ Williams die Andy Kirk Band, ging zurück nach Pittsburgh und gründete eine eigene Band mit ihrem Kurzzeit-Ehemann Shorty Baker. Zusammen wurden sie kurze Zeit später Mitglieder von Duke Ellington’s Orchester, Mary Lou Williams als Arrangeurin neben Billy Strayhorn. Hier spielt die Ellington Band ihr »Trumpets No End«:
1945 verließ Williams die Ellington Organisation und Baker, startete eine Solo-Karriere in New York und hatte bald eine eigene Radiosendung. Im selben Jahr nahm sie auch ihr erstes umfangreicheres kompositorisches Werk auf, die Zodiac Suite mit einem Stück für jedes Tierkreiszeichen:
Ihr Apartment in Harlem wurde zum Treffpunkt der jungen Bebopper von Thelonious Monk über Dizzy Gillespie bis Tadd Dameron, was ihr den Titel »Mother of Bebop« eintrug. Hier spielt Gillespie 1949 mit Sänger Joe Carroll ihr Stück »In the Land of Oo-bla-dee«:
Im August 1949 begann Betreiber Max Gordon, im Village Vanguard, NYC, Jazz-Konzerte zu veranstalten, und engagierte sie mit ihrem Trio als erste Band. Doch ihre Solo-Karriere war finanziell nicht erfolgreich. Deshalb ging sie ab 1952 auf Tourneen in Europa, wo sie sich dann in Paris niederließ. Es entstanden zahlreiche Aufnahmen, aber sie fühlte sich zunehmend erschöpft und wandte sich immer mehr der Religion zu, auch nach ihrer Rückkehr in die USA 1954. 1957 konvertierte sie zusammen mit ihrer engen Freundin Lorraine Gillespie, Dizzy’s Ehefrau, zum Katholizismus. Sie spielte weiterhin Jazz, wobei ihre Kompositionen zunehmend religiösen Charakter bekamen. 1962/63 nahm sie ihr erstes umfangreiches religiöses Werk »Black Christ of the Andes« auf:
Sie gründete ihr eigenes Platten-Label Mary Records und begann, Jazz-Messen für kirchliche Aufführungen zu komponieren. Eine davon war das ungemein moderne »Music for Peace«, später als »Mary Lou’s Mass« bekannt, das sie 1970 auf ihrem Label herausbrachte:
In den 1970er Jahren kehrte sie ins Jazz-Rampenlicht zurück. Es entstanden wieder mehr Jazz-Aufnahmen wie die Live-Aufnahme »Giants« mit Dizzy Gillespie, die für einen Grammy nominiert wurde:
1975 machte sie ihre vielleicht beste Trio-Aufnahme »Free Spirits« mit Buster Williams und Mickey Roker für Steeplechase:
Sie blieb musikalisch sehr offen bis hin zu einem gemeinsamen Konzert mit Free Jazz Pianist Cecil Taylor 1977 in der Carnegie Hall, das das Pablo Label als LP herausbrachte:
Aus ihren letzten Jahren gibt es einige interessante Video-Aufnahmen:
Im Trio mit Jo Jones in Nizza 1978
Klub Konzert mit Bassistin Carline Ray 1978 in NYC
Von 1977 bis zu ihrem Tod durch Blasenkrebs 1981 war sie Artist in Residence an der Duke University in Durham, North Carolina, wo nach ihrem Tod das heutige Mary Lou Williams Center for Black Culture entstand. Sie erhielt sechs Ehrendoktortitel.
Nach ihrem Tod wurde ihr noch mehr Anerkennung zuteil als in ihren letzten Lebensjahren. 1995 startete das Kennedy Center in Washington das jährliche Mary Lou Williams Women in Jazz Festival. Hier eine Panel Discussion mit Dr. Billy Taylor und Carline Ray über Mary Lou Williams im Rahmen des Festivals 1998:
Viele Musikerinnen betrachten sie bis heute als Vorbild.
Pianistin Helen Sung bezieht sich 2019 auf Williams
Die Filmdokumentation »Music on My Mind« aus dem Jahr 1989 ist gegen Bezahlung verfügbar (€ 1,77):
Es ist bedauerlich, dass Mary Lou Williams in Deutschland kaum vergleichbare Wertschätzung entgegengebracht wird. Duke Ellington hatte völlig Recht, als er sie in seiner Autobiografie »Music is My Mistress« beschrieb als »perpetually contemporary«. Fortwährend zeitgenössisch.
Text: Hans-Bernd Kittlaus