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Der großartige Altsaxofonist, der 2009 in Köln verstorben ist, wurde am 12. November 1923 in Boston geboren.

Sein italienisches Elternhaus bevorzugte eher die Klassik und Oper, ehe Charles Mariano mit 17 Jahren zum Saxofon griff. Sein großes Vorbild war Lester Young, später Johnny Hodges ( „mein erstes wichtiges Vorbild“). Mariano spielte später unter dem Einfluss von John Coltrane auch das Sopransaxophon und brillierte auch hier mit seiner eigenständigen und wiedererkennbaren Spielcharakteristik. 

1950 erschien seine erste Aufnahme unter eigenem Namen (Charlie Mariano and his Jazz group, mit Herb Pomeroy, Jaki Byard). Von 1953 bis 1955 spielte er bei Stan Kenton. Mariano trat mit vielen weiteren Jazzgrößen wie Charlie Parker, Dizzy Gillespie und McCoy Tyner auf. Berühmt wurde seine Solos auf in The Black Saint and the Sinner Lady (1963) von Charles Mingus. 

Musikalisch startete er Mitte der 60iger Jahre eine zweite Karriere mit der Band Osmosis und öffnete sich dem Fusion Jazz, baute Folk, Pop und Rockelemente in seine Musik ein. Seit 1971 arbeitete Mariano vornehmlich in Europa, wo er sich zunächst in den Niederlanden und Belgien niederließ. Neben vielen anderen internationalen Projekten nahm er mit dem belgischen Gitarristen Philip Catherine und Jasper van’t Hof 1979 Sleep My Love auf. Mariano gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern des United Jazz and Rock Ensemble, der „Band der Bandleader“. Mit dem Freiburger Jazzbassisten Dieter Ilg unterhielt er ein kammermusikalisches Jazz-Duo.

In der deutschen Pop-Musik (Herbert Grönemeyer (Bochum 1984), Konstantin Wecker) hinterließ Mariano ebenso Spuren wie in der sog. Weltmusik bei Rabih Abou-Khalil, mit Dino Saluzzi und den Dissidenten. 

Mariano hat insgesamt an mehr als 300 Schallplatten und CDs mitgewirkt.

Seit 1986 lebte er in Köln und war sehr wichtiger Teil der herausragenden Szene. Hier starb er 2009 im Alter von 85 Jahren. 

Charlie Mariano hat an so vielen und unterschiedlichen Projekten mitgewirkt, dass jede Auswahl unvollständig ist. Also bleibt nur die Option der eigenen Vorlieben:

Zum Start also der Blick zurück auf die Anfänge:

1953: The New Sounds form Boston

https://youtu.be/yN_R9szc4NU?feature=shared

1951-1955 : Boston All Stars

The Toshiko-Mariano Quartett 1961 (mit seiner damaligen Frau Toshiko Akiyoshi)

The Black Saint and the Sinner Lady (Charly Mingus, 1963)

Reflections (1974)

Und dann die Phase seiner prägenden Mitgliedschaft im United Jazz&Rock Ensemble (mit dem ich Mariano zum ersten Mal live erleben durfte)

Plum Island (1991)

Be-Bop-Rock (1987) 

Ein komplettes Konzert: Live im Lessing 1998

Und dann noch der wirklich sehenswerte Film von Axel Engstfeld (2014), der die künstlerische Leistung und die Persönlichkeit von Charlie Mariano ernsthaft und gleichzeitig liebevoll wiedergibt:

R.I.P.

Text: Jochen Axer

Devin Brahja Waldman leitet die Band BRAHJA, die am Freitag, 10.11. im Rahmen unserer Urban Jazz Experience spielt.

Man stelle sich das mal vor: Man hat bereits mit zehn Jahren begonnen zu Touren, damals als Begleitung der eigenen Tante, die eine bekannte Poetin ist (Anna Waldman), und in den Folgejahren mit der Punk-Ikone Patti Smith, dem Künstler und Can-Musiker Malcolm Mooney und Sonic Youths Thurston Moore gespielt; man sei ganz nebenher ein Weltenbürger, der munter zwischen New York und Montreal, zwischen Nordamerika und Europa hin- und herspringen könne; man mache sowohl bei den Postrockern von Godspeed! You Black Emperor, als auch neben dem ägyptischen Fusionmusiker Maurice Louca eine gute Figur – man müsste doch fast unter diesem fast unmenschlichem »Plus an allem« zerbröseln. Doch die Welt von Devin Brahja Waldman, diesem famosen und übertalentiertem (ein Begriff, den man nicht leichtfertig benutzen sollte) Saxofonisten, Schlagzeuger, Synthesizer-/Pianisten und Komponisten, sieht anders aus. Sie bröselt nicht, sie splittert auch nicht, sie wirft nicht einmal Falten. Stattdessen entwirrt sich in den Händen des New Yorkers sogar der Gordische Knoten.

Devin Brahja Waldman leitet die Band BRAHJA. BRAHJA spielt in der einen oder anderen Form seit 2008 und besteht derzeit aus 10 Musikern aus Montreal, New York City, Washington D.C. und Chicago; der Kern besteht aus Waldman, Isis Giraldo (Klavier, Synthesizer, Gesang), Damon Shadrach Hankoff (Orgel, Klavier, Synthesizer), Martin Heslop (akustischer Bass) und Daniel Gélinas (Schlagzeug, Synthesizer).
Die Loipen in die verschiedenen nordamerikanischen Zentren des Jazz, der freien Musik, der Improvisation und des Experiments sind folglich längst gefräst und Waldman könnte sich bereits zurücklehnen. Mal hier connecten, dann wieder woanders andocken – Erfolg wäre ihm garantiert. Wer aber unterdessen in sein 2019er Debütalbum reingehört hat und das Vergnügen hatte, diese innovative, dichte, superelastische Musik zu genießen, der kann bestätigen: Sowas hat man noch nicht gehört. Man wusste sogar bisher gar nicht, dass man nach diesem alchemistischen Mix, nach dieser eigensinnigen, kompakten Musik mit ihren Post-Punk-Ostinati im Bassregister, mit den spirituellen Noten und den frei-schwebenden Saxofon-Licks, gesucht hätte.

Waldman schrieb damals über die Debüt-Veröffentlichung unter dem nom de plume: »Diese Songs handeln meist von der Reinigung von ungebetener Dunkelheit. Eine Art von Heilung für eine Art von Gift. Eine Art von Tod für eine Art von Erneuerung. Ich hoffe, ihr könnt dieser Musik Sinn und Freude abgewinnen. Mit aufrichtiger Dankbarkeit, Devin Brahja Waldman.«

Es ist ein großes Versprechen, eines das etliche Male in der Geschichte der Musik-Menschheit getätigt wurde: Wer hier klickt, einschaltet, dies oder jenes auflegt, runterlädt und/oder langsam reingleiten lässt, wird geheilt. Er knüpft an die Verheißungen des Spirituals an, weiß sie aber sowohl gedanklich als auch inhaltlich in eine neue Zeit, unsere heutige zu übersetzen. Wo Pharoah Sanders oder Coltrane noch Forschungsarbeit betrieben haben und das Art Ensemble sowie seine Chicagoer Freunde über den Globus reisen mussten, steht für Waldman längst die Welt, Dies- und Jenseits, Sinnes- und Bewusstseinserweiterungsstufen offen.

Ohne nach Äthiopien pilgern zu müssen, kann er Anno 2023 amharische Sounds genauso inkorporieren, wie europäische, subversive Klangforschungen zitieren. Manchmal scheint ihm das zuzufliegen, dann wiederum nimmt er Kontakt auf zu den anfangs genannten Musik-Ikonen (genau: Smith, Moore, Mooney, aber auch Mette Rasmussen oder Free-Jazz-Drum-Legende Hamid Drake) und lernt direkt von den besten Lehrmeistern.

Bei so viel Connecterei gerät das Werk auch immer wieder an seine Grenzen. Die insgesamt zehn Musiker*innen seiner Combo wollen spielen; doch Waldman weiß sie zu bändigen, lässt ihnen zugleich Platz. Immer wieder klingt die Musik, als würden gleich mehrere Stücke parallel laufen und doch funktioniert das alles wie er selbst: Wo andere porös oder mürbe werden, wird das Projekt BRAHJA produktiv. Dann verliert man sich in den verschiedenen Spuren – und wird womöglich nebenbei geheilt. Wir werden es beim Abschluss des ersten King Georg Festivals, der Urban Jazz Experience, hören.

Text: Lars Fleischmann

Am 3. November 2022 ist der Saxofonist und Flötist Gerd Dudek im Alter von 84 Jahren verstorben. Auch in Köln hat er deutliche Spuren hinterlassen. Ein Verbeugung.

Es ist schon ein Jahr her …unglaublich!

Vielleicht hat das großartige Stadtgarten-Konzert in memoriam Anfang diesen Jahres die empfundene Zeit verkürzt. Wer nochmals hineinhören will, kann dieses Konzert über die Mediathek von WDR3 weiterhin hören.

Da es immer um Schubladen geht, wird Gerd Dudek zu den Modern Creatives gezählt. Und ja, er spielte im Manfred Schoof Quartett mit Alexander von Schlippenbach, Busch Niebergall und Jaki Liebezeit (hier ein Video mit der WDR-Bigband und Manfred Schoof aus dem Jahr 2003):

später im Albert Mangelsdorff Quintett, spielte mit Peter Brötzmann ebenso wie mit Hans Koller und vielen anderen. Tatsächlich konnte er alles spielen, so einfach. Zwei seiner letzten Aufnahmen (2016 und noch 2022) machte er mit dem künstlerischen Leiter des King Georg Martin Sasse und Martin Gjakonovski (mit Hendrik Smock bzw. Joost van Schaik)

Aus den letztgenannten Veröffentlichungen möchten wir drei Stücke (»Afro Blue«, »With you« und »de Vita)« anbieten, verbunden mit unserer Verbeugung vor einem großen Künstler, der gerade in Köln Spuren hinterlassen hat, und einem liebenswerten, bescheidenen Menschen:  Gerd Dudek 

Text: Jochen Axer

Robert Summerfield und Lars Duppler sind mit ihrem Joni Mitchell-Tribute dabei

Jazz in Köln, Jazz fürs Publikum: Vom 6. November – 11. November befassen wir uns im Rahmen der »Urban Jazz Experience« mit der Vergangenheit, Zukunft und GEGENWART des JAZZ.

Seit 2019 hat Köln einen Jazz-Club – mitten im Agnesviertel. Das Programm des King Georg steht unter dem Motto Straight ahead, modern & more, die Konzerte bestechen durch intime Atmosphäre, live auf Augenhöhe mit dem Publikum. Die Künstlerischen Leiter Martin Sasse (Jazz) und Hermes Villena (Jazz & Related) sorgen für Jazz und Artverwandtes, sowohl für Kenner als auch für Neugierige. 

Ein Treffpunkt für Fußwipper und Fingerschnipper, am Wochenende auch für Tänzer und alle, die die (ganze) Nacht zum Tage machen. Ein Ort für gute Unterhaltung, an dem man den Alltag auch mal vergisst. Entspannend und spannend zugleich.  Jazz live bei einem gepflegten Drink an der stilvollen Bar oder draußen am King Georg Büdchen, wo die seit Ende der 1960er Jahre bestehende Location lebendig in die Nachbarschaft integriert wird. Ein Jazz-Club wie der King Georg, ein Muss in der Jazzstadt Köln.

Im November 2023 steigt nun das erste King Georg Clubfestival. Die Urban Jazz Experience versammelt internationale und lokale Künstler*innen.  Acts, die der Jazz-Historie verbunden sind und mit ihrem Sound gleichzeitig nah am Puls der Zeit liegen. Der King Georg Jazz-Club ist ein Melting Pot, in dem Jazz-Tradition und -Moderne miteinander verschmelzen und der so zur Diversität in der Clublandschaft beiträgt. Genau diese Mischung steht im Mittelpunkt der Urban Jazz Experience. Und über allem das Prinzip: Jazz fürs Publikum. Wobei zum Publikum die Jazz-Cats der Vergangenheit, die Jazz-Cats der Gegenwart und natürlich die Jazz-Cats der Zukunft zählen.  

Der New Yorker Pianist Benny Green hat unter anderem bei Art Blakey’s Jazz Messengers gespielt, Benny Summerfield widmet sich der Folk-Ikone und musikalischen Grenzgängerin Joni Mitchell, in der Reihe Young Talents, die im King Georg dem Nachwuchs vorbehalten ist und die beim Festival nicht fehlen darf, stellt sich das Lukas Wögler Trio vor, die niederländische Flötistin und Komponistin Jorik Bergmann kommt ebenfalls im Trio, Saxofonist Devin Brahja Waldman aus New York schließt mit seinem Solo-Projekt und einer Portion Spiritual Jazz vorläufig den Kreis, den die Urban Jazz Experience um das King Georg zieht. Nichts übertrifft das Live-Erlebnis – aber der King Georg bietet auch ein umfassendes digitales Angebot, in dem auch über 400 Konzert-Mitschnitte abrufbar sind. Und wir machen nach dem Festival fleißig weiter: Bis zu vier Jazz-Konzerte pro Woche – dazu Lesungen, DJ-Abende und Jazz-Entertainment.

Das Programm:

06.11.

19.30 Uhr Benny Green / 21.30 Uhr Benny Green Late Set

07.11.

19.30 Uhr Robert Summerfield und Lars Duppler »JONI«

08.11.

16.30 Uhr – 18 Uhr Panels: Wir sprechen über Vergangenheit, Zukunft und GEGENWART des Jazz

19.30 Uhr Lukas Wögler Quartett

09.11.

19.30 Uhr Jorik Bergmann Trio

10.11.

19.30 Uhr Brahja

Wie sich die Lage in der Jazzstadt Köln darstellt für Künstler*innen, Clubbetreiber*innen und Live-Veranstalter*innen – das wird beim Festival auf zwei Panels diskutiert. Rahmenbedingungen und Ziele, Überlebenskampf und Erfolge, Kunst und Ökonomie. Eingeladen sind Vertreter*innen der Stadt sowie verschiedener Jazz-Institutionen, Jazz-Musiker*innen und Journalist*innen. Im Raum steht auch die Frage, wie man sich in der brodelnden Schnittmenge zwischen Legacy und Latitude bewegt, die den Jazz so reizvoll macht – nicht zuletzt für so viele und immer mehr junge Leute. Das Erbe des Jazz und der gegebene Spielraum für Jazz-Akteure, um sich kreativ damit auseinanderzusetzen: Wir sprechen über ein generationenübergreifendes Thema, das genauso fesselnd sein sollte, wie die packenden Live-Sessions, die auf der Urban Jazz Experience 2023 zu erwarten sind.

Jochen Axer und das Team des King Georg

Am 21. Oktober wird er 68: Wir gratulieren dem Grenzgänger zwischen Jazz und Klassik

Ein Geburtstag wie viele andere? Nicht ganz, denn 2008 war der Jazz-Pianist und Komponist Hersch als Folge einer Aids-Erkrankung in ein zweimonatiges Koma verfallen – und niemand wusste, ob und wie es weitergehen würde. Hersch hat diese Erfahrung in seinen Memoiren 2017 verarbeitet: »Good Things happen slowly«.  Und man darf den Eindruck haben, dass Hersch nach überstandener Erkrankung nicht nur mehr arbeitete, sondern auch die ihm zukommende Anerkennung fand und etliche Preise erhielt. Nicht weniger als 15mal ist er für den Grammy nominiert wirden. In den letzten drei Jahren hat er die Alben »Songs from Home« (2021), »Breath by Breath« (2022) und ganz neu »Alive at Village Vanguard«  (2023 mit Esperanza Spalding) herausgebracht. Nicht zum ersten Mal hat er Aufnahmen aus diesem großartigen Club veröffentlicht, der für ihn als einer Säule der New Yorker Jazzszene sein Zuhause ist – er war der erste Musiker, der dadurch geehrt wurde, eine volle Woche mit seinem Soloprogramm dort auftreten zu dürfen. Und immer wieder zitiert er, der von Chet Baker beeinflusst ist und mit Stan Getz, Joe Henderson, Toots Thielemans, Charlie Haden und vielen anderen zusammen spielte, Thelonious Monk. Zu Herschs Ehren kredenzen wir Ihnen einige seiner Stücke:

»Dream of Monk« (2023 mit Esperanza Spalding – Album: Alive at Village Vanguard)

Dieses Stück auch gerne noch einmal in einer Instrumentalversion des Fred Hersch Trio (Gilmor Piano Festival , 2022)

Weiter mit »Monk´s Dream« (mit Julian Lage, Album Free Flying, 2013)

Und dann gibt es auch das Komplettalbum für Monk: »Fred Hersch Plays Monk« (1998)

Ein großartiger Pianist und Komponist mit einem impressionistischen Stil, hier zuletzt mit er Klassiker »Blue Monk«

Diesen Klassiker dann auch noch in der Originalversion in der Besetzung Thelonious Monk – piano, Charlie Rouse – tenorsax, Ben Riley – drums, Larry Gales – bass (1955, Aufnahme aus 1966, Live Norwegen)

Und zum Spaß und Vergleich auch noch mit dem Emmet Cohen Trio (Emmet Cohen, piano – Phil Norris, bass – Kyle Poole , drums)

Text: Jochen Axer

Bex Burch tritt am 27.10. im King Georg auf und präsentiert dort ihr neues Album »There Is Only Love And Fear«. Kuckuck!

Die Musik der Engländerin Bex Burch hat viel mit dem Klang des Kuckucks zu tun, der ihr neues Album »There Is Only Love And Fear« eröffnet bei einem Gang über einen leicht matschigen Weg, der erst am Vorabend den Regen gesehen hat, und dennoch, dank eines erhöhten Anteils größerer Kiesel und leichten Steinbruchs, seine strukturelle Integrität nicht verloren hat. Während man die Schritte also hört, kuckut es eben aus der Distanz.
Und so minimal die Mittel dieses ikonischen Vertreters der nach ihm benannten Gattung sind – zumindest vokal -, so minimal klingt normalerweise die Musik der in Leeds geborenen Bex Burch, die bisher vor allen Dingen mit ihrem Projekt Vula Viel, aber auch als Teil von Boing! und Flock, aufgefallen ist.

beim grandiosen Label International Anthem, das wie kaum ein anderes in den letzten 30 Jahren den Jazz verändert hat, gibt es zwar keine Kuckucke, aber andere bunte Vögel – und Schildkröten.

Ku-ckuck, Kuck-ckuck, Kuck-uck – kleinste Variationen, beim Sender oder beim Empfänger, können große Bedeutungsunterschiede mit sich bringen; das weiß die Improvisateurin Burch natürlich; die Instrumentenbauerin Burch weiß das sogar noch besser. Das diffizile, filigrane Handwerk, das sie schon lange in ihrer künstlerische Praxis eingeführt hat, nimmt dabei nicht allein die Rolle der Möglichkeitserweiterung ein: Das, was bis jetzt nicht möglich ist, das soll halt schon bald möglich werden. Neue Ansätze, neue Spielweisen, neue und alte Freunde.

So wie Burch Instrumente baut, so baut sie auch Brücken: Nach London, nach Berlin – wo sie heute lebt -, nach Chicago. In der Windy City, beim grandiosen Label International Anthem, das wie kaum ein anderes in den letzten 30 Jahren den Jazz verändert hat, gibt es zwar keine Kuckucke, aber andere bunte Vögel – und Schildkröten. Eine davon hört auf den Namen Dan Bitney und wird zu einem der wichtigsten Ansprechpartner von Burch auf ihrem leicht-mäandernden Album. Bitney, der in den 90ern mit der Gruppe Tortoise (wie erinnern uns gerne an die beiden formidablen Sets von Tortoise-Gitarrist Jeff Parker im King Georg zurück) auch eine Brücke schlug: vom Jazz zum Postrock.+

Ihm sind die intensiven polyrhythmischen Strukturen zu verdanken, die gerade in der Mitte des Albums Überhand nehmen, wenn der atmosphärische Minimalismus der spürbar intensiveren Minimal Music weichen muss. Dann klingt plötzlich eine Marimba und man wird daran erinnert, dass Burch auch schon in Ghana ihre Wurzeln (und Brückenköpfe) geschlagen hat. Hier lernte sie einst – in einem dreijährigen Aufenthalt -, wie man Xylophone baut, wie man Holz schleift und wie man es zum Klingen bringt.

Und dann wieder diese Brückenschläge: Musik vom einen Kontinent, gespielt mit Instrumenten von zwei anderen, wird finalisiert auf einem vierten – Bex Burch lässt unseren Planeten ganz klein werden.

Jetzt sind die 12 Stücke vergleichsweise weit von dem entfernt, was über Jahrzehnte als Jazz von New Orleans über Chicago nach New York, Birmingham, Charleston in die Welt geschickt wurde, wieder zurückkam und sich dann zur Kunstmusik entwickelte. Und doch ist die Verbundenheit zu bestimmten traditionellen Denkmustern – nicht Sounds!  – offensichtlich: Es geht um Groove, um Flow, um Dynamik und spirituelle Erfahrungen, um Kunst, Können, das spannende Verhältnis zwischen Komposition und Improvisation, das prozessuale Aufführen und die inhärente Erfahrung der Moderne als große (Ver-)Formerin des Menschen. Da spielt dann folgerichtig Ben LaMar Gay, Mitglied der Chicagoer AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians), zwischendurch das Kornett, als wäre er gerade erst aus dem New Orleans der 1890er eingeflogen.

Und dann wieder diese Brückenschläge: Musik vom einen Kontinent, gespielt mit Instrumenten von zwei anderen, wird finalisiert auf einem vierten – Bex Burch lässt unseren Planeten ganz klein werden, uns näher zusammenrücken bei den intuitiven Lautäußerungen, die wir so oder so ähnlich in Belgien und Frankreich zwischen 1975 und 1985 kennen lernten, die wir auch aus kruderen und verknusten Kraut-Gruppen hören durften, die seit dem immer wieder Revivals feiern durften. Ein leicht verstimmtes Klavier trifft dann auf tropfendes Wasser, ein anderes Lamellophon und die feine Harmonik des Cool Jazz.

Immer heißen die Fragen: Was hören wir denn heute? Wer will ich denn heute sein? Improvisateurin? Bastlerin? Detailorientierte Songwriterin? Jazzerin? Minimal Musikerin? Neu, alt, modern oder anti-modern, jung, alt, 90er, 80er, 2023 oder 2302? Kuck-uck oder doch Ku-ckuck?

Text: Lars Fleischmann

Am 14. Oktober spielt Otis Mensah aus Sheffield in der Reihe Heavy Feelings. Der Support kommt von der Kölner Musikerin Ray Lozano. 

Sheffield ist weit weg davon, der beste Advokat seiner selbst zu sein. Während bei Städten wie Manchester, Liverpool, aber auch Birmingham und Bristol keine sonderlich großen Fragezeichen aufpoppen, hält sich die Stadt in Yorkshire stets im Hintergrund auf. Es wissen womöglich mehr Menschen, dass sich der örtliche Fußballverein den Namen mit einer erfolgreichen Netflix-Serie teilt, als dass sie Bands und Labels der Stadt aufzählen können.
Dabei kann die Halbmillion-Stadt im Windschatten von Manchester auf eine wechselhafte und innovative Musikgeschichte zurückschauen: Da sind die Achtziger mit The Human League und ABC, die Brit-Popper von Pulp oder natürlich das epochenmachende Electronica-Label Warp, das von hier aus die Entwicklung der elektronischen Musik maßgeblich beeinflusste.
Nicht unerwähnt bleiben soll Gitarrist Derek Bailey, der große Free-Jazz- und Improv-Impresario, dessen Label Incus (mit dem Saxofonisten Evan Parker und dem Drummer Tony Oxley) das englische Pendant zum deutschen FMP-Label von Peter Brötzmann darstellte.

In dieser Tradition des „Geschickt im Windschatten-Auftauchens“ stellt sich – womöglich ganz unwillkürlich – der stolze Sheffielder Otis Mensah. »Der englische Norden gibt mir den Platz zu reflektieren«, erzählt er im Interview mit dem New Wave Magazine. Allergisch gegenüber Überstimulation und einem fehlenden Gefühl von familiärer Umgebung, nutzt der 1995 geborene Mensah die leicht zurückgelehnte Atmosphäre. Das Ergebnis: Der Sohn eines DJs und einer Lyrikerin findet die Zeit seine Kunst, den sogenannten Lyricsm, zu perfektionieren. 
Nicht wenige sehen in Mensah die große Hoffnung der englischen Lyrik, die anerkannt näher an der Musikszene entlang operiert. So changiert auch er, wie etwa der Musiker und Literat Kae Tempest oder Coby Sey, zwischen Spoken Word und Rap; lässt manchmal den Klang der Instrumentals, dann wieder seine eigenen Worte in den Vordergrund springen, gleiten oder fliegen.
Dieser Zwiespalt, den Otis Mensah heute sehr produktiv einzusetzen weiß, entsteht in seinen Teenager-Jahren, als er, wie er einst in einem Interview verriet, keine Repräsentanz im literarischen Kanon fand, keinen Zugriff zu Texten hatte, die ihn interessierten oder forderten – zwangsläufig wandte er sich Hip-Hop zu. Statt des englischen Grime-Sounds untersuchte Mensah die Verse von Kid Cudi, Common oder auch Childish Gambino, fand im amerikanischen Conscious-Rap ein Zuhause. Das ergibt aus heutiger Hinsicht sehr viel Sinn, beruft sich etwa der Oscarpreisträger Common auf die Spoken Words-Kunst der sogenannten Last Poets aus Harlem, die wiederum als erste Jazz, Beat-Literatur, assoziative und politische Texte mixten, verbanden und zu einer neuen Musik formten.
Wie einer der Last Poets sprechgesangt auch Mensah heute seine Reflexionen über Männlichkeit in einer Welt, die an ihren patriarchalen Mustern immer häufiger zu scheitern droht; über Geschlechterbinarität; über Rassismus, mental health, struktuelle Gewalt und vieles mehr.
Beats kommen derweil aus Berlin, vom dortigen Boom Bap-Produzenten The Intern – die Instrumental-Spuren geben Mensah den Platz sich auszudrücken, fordern mit ihren geschickten Beat-Settings aber auch mal eine Jazz-hafte Re-Rhythmisierungen.


»Für mich sind Verse wie die Soli von Saxofonisten und Trompetern«, erklärt er und führt weiter aus, »bei Hip-Hop steckt Jazz in allen Ecken und Kanten; das hat mir ermöglicht eingefahrene Strukturen und Formen in einer Jazz-haften Art zu verlernen und etwas neues zu machen.« Als Jugendlicher habe er einst die Posaune gelernt und sei dem Jazz bis heute stets verbunden geblieben.
Wenn Mensah am 14.10. im King Georg auftritt, findet er also den perfekten Ort – und im Zuge der Heavy Feelings-Reihe auch die optimale Repräsentation.
Immerhin kommt der Support an diesem Abend von der Kölner Musikerin Ray Lozano, selbst eine klassisch ausgebildete Musikerin, die über die Jahre ihren Weg gefunden hat und bisweilen ähnliche Antworten gefunden hat. Auch bei Ray Lozano sind die Instrumentals, die sie selbst zu Hause am PC produziert, vom Jazz geschult – und bieten ihrem Songwriting die optimale Basis um das „Pop-Lied“ zu dekonstruieren und in innovative Ecken zu bringen.

Text: Lars Fleischmann

Am 13. Oktober spielt Luke Stewart im King Georg Jazz. Was auch immer das bedeutet.

Luke Stewart Silt Trio

Jazz und Punk: Politisch, rebellisch, autonom. Ich will das Fass nicht weiter aufmachen, also bleibe ich einfach beim Begriff Jazz. Nun, da dies geklärt ist, lasst mich fortfahren: Jazz kann alles. Alles ist Jazz. Und als Urknall der Popkultur ist er, als kosmische Hintergrundstrahlung, in ihr allgegenwärtig.

Dank zahlreicher Produzenten wie Madlib, Pete Rock oder J Dilla wurde dieses musikalische Wissen im HipHop weitergetragen. Auch im elektronischen Genre House wurde Jazz immer wieder kontextualisiert, so in etwa auf dem Track »On A Corner Called Jazz«, veröffentlicht von keinem geringeren als dem Godfather of Deep: Larry Heard alias Mr. Fingers. Aber wen wundert’s. Kann man tatsächlich aus Chicago kommen und dem Jazz entkommen und nicht aus seinem Material geformt werden? Und dann ist da natürlich noch der Prog-Rock: Denn auf der anderen Seite des Atlantiks hat Ian Carter mit seiner Fusion-Band Nucleus in den frühen 1970er Jahren in Großbritannien etliche Generationen von Bands entscheidend geprägt.  Ich könnte hier weitermachen im Programm: Bossa Nova, Library Music, Afrobeat etc. Aber wenn es um das musikalische Erbe des Jazz´ geht, wird eine stilistische Richtung meist außen vorgelassen. Namentlich: Punk. Was in unserem Kontext schlussendlich bedeutet, dass Künstler wie John Coltrane, Archie Sheep, Ornette Coleman oder Albert Ayler die Godfathers of Punk sind. Amen. 

Natürlich: Anders als viele Punkmusiker*innen waren sie an ihren Instrumenten gewachsen und handwerklich begabt bis sonderbegabt. Das ist natürlich kein Muss für Musik, auch nicht für bedeutende. Eine Virtuosität, die ins Nirgendwo führt, kann mich persönlich zu Tode langweilen. Nein, diese Herren waren Punks im spirituellen Sinne: Sie waren musikalisch rebellisch und nonkonformistisch!
Und wenn das jetzt interessant klingt, muss ich an dieser Stelle die Lesenden enttäuschen. Auf die Fortsetzung dieses Themas lasse ich vorerst warten und recherchiere weiter, aber oha!, es gibt viel zu erzählen! Jedoch, falls euch dieser kurze Ausflug angesprochen hat, möchte ich euch ins King Georg einladen, und zwar am 13. Oktober. Im Rahmen der oben abgehandelten Erörterung wird euch ein Konzert des Bassisten Luke Stewart erwarten, und dann gibt es, energetisch gesprochen, Punk! Oder wie ich früher mit Freunden zu sagen pflegte: Ein Konzert auf die Fresse!  

Also, wer ist Luke Stewart?
Natürlich ist es Zufall oder viel mehr als Zufall jemals sein könnte, dass Luke in Washington D.C. wohnt, Hauptstadt der Vereinigten Staaten einerseits und der Geburtsort des Hardcore Punks anderseits. Wer erinnert sich nicht gerne an eine der wichtigsten HC Punk-Bands aller Zeiten, jene Bad Brains, die, Obacht!, zuvor die Jazzfunk Band Mind Power waren. Luke Stewart ist Mitbegründer des CapitalBop Inc., eine gemeinnützige Organisation, die sich für die Erhaltung, Förderung und Präsentation des Jazz in Washington, D.C. einsetzt. Ein politischer Graswurzel-Aktivismus, absurd nahe an der Do It Yourself- Mentalität der Anarcho- und Hardcore-Punkbewegung der 80er Jahre. Selbstverständlich existierte eine DIY-Mentalität bereits vor dem Punk, vor allem im Jazz.  Die AACM aus Chicago entstand (1965) letzten Endes durch die Initiative einiger South Side Chicago Cats, aber das ist eine andere Geschichte.  Also zurück zu Herrn Stewart, der außerhalb der USA vor durch seine Rolle bei Camae Ayewa Ann Inez alias Moore Mothers Projekt Irreversible Entanglements bekannt wurde. Dieses Projekt entstand 2015 aus einem Protest gegen den Tod von Akai Gurley, der durch die Hände eines New Yorker Polizisten starb.  Seitdem zählt das Ensemble mit Luke Stewart und seine weiteren Mitglieder*innen zu den wichtigsten Akteuren der politischen Jazzlandschaft in den USA. Jazz und Punk: Politisch, rebellisch, autonom.

Doch so kurz vor Schluss sei gesagt, dass ich euch Luke Stewart nicht als Punk verkaufen möchte, obschon er mit seinem Duo Blacks‘ Myths im Jahre 2019 ein großartiges Noise Rock/ Free Jazz Tape veröffentlichte.  Luke Stewart spielt Jazz, was auch immer das bedeutet.

Text: Hermes Villena

 

Die Avantgarde-Szene lag ihm schon zu Füßen: Wayne Horvitz wäre gern ein Jazzer, ist aber als nur als Freigeist er selbst. Am 24.9. spielt er live im King Georg.

Wayne Horvitz

Wayne Horvitz ist kein Mensch, der sich schnell Labels anheften lässt. Manchmal zeichnet ihn eine gerade zu idiosynkratische Überempfindlichkeit gegenüber Genrebezeichnungen aus – zumindest wenn es um ihn selbst geht: »Ich bin kein Jazzer. Das wäre ich gerne, aber ich kann nicht gut vom Blatt spielen. Ich wäre gerne ein guter Bebopper, das bin ich aber nicht. So hart ich es auch versuche: Ich bin keinem ›style‹ zugeordnet«, erklärte er vor ein paar Jahren im Interview mit der amerikanischen Jazztimes.

Diese »Stylelosigkeit« ist aber nicht mit »Stillosigkeit« zu verwechseln. Ganz im Gegenteil: mit etwas Glück und Können kann man Wayne Horvitz-Stücke erkennen, wenn sie einem blind vorgespielt werden. Den 1955 in New York City geborenen Horvitz begleiten nämlich bei aller Ablehnung von Etiketten doch einige Konstanten. Geht es um seine Solo- oder Mainman-Aktivitäten erkennt man stets eine Nähe zur Neuen Musik, zur Zwölftonmusik, aber auch zu (post-)strukturalistischen und (post-)seriellen Ansätzen in der Musik des 20. Jahrhunderts. Immer wieder wagt Horvitz den Sprung über die Genregrenzen, wendet sich mit Eugene Chadbourne freien Improvisationen zu oder wandelt auf den Spuren seines großen Vorbilds Cecil Taylor: »Als ich 16 war, veränderte mich die erste Cecil Taylor-Platte, die ich in die Hand bekommen habe, mein Leben. Danach versuchte ich lange wie er zu spielen, bis ich begriff, was das Besondere an Taylor war: Er spielte eben nicht wie jemand anders, sondern nur wie er selbst. Das wollte ich fortan genauso halten.«

Diese eigene Spielweise hat Horvitz seit den späten 1970er Jahren in etlichen Variationen eingebracht: Bekannt ist vor allen Dingen sein Engagement in John Zorns Naked City. Der Keyboarder und Pianist war damals in etlichen Konstellationen um die New Yorker Avantgarde-Szene der Knitting Factory aktiv. Nach diesen ersten großen Schritten in der Szene – zu denen auch seine Projekte The President und das Previte Trio gehören – folgte sein Umzug an die amerikanische Westküste. In Seattle gründete er dann das Quartett Pigpen, wo er weniger Hardcore-orientiert zur Sache ging.

Pigpen war eher eine Fortsetzung des Horvitz-Projektes The President, einer Formation mit wechselnden Besetzungen. Schon mit The President kümmerte er sich nicht um stilistische Grenzziehungen, sondern verband minimalistische Strukturelemente mit FreeJazz-Momenten und Noise- und Trash-Effekten.

Die Avantgarde-Szene lag ihm regelrecht zu Füßen, immer wieder tauchte Horvitz auch als Produzent (Bill Frisell und Eddie Palmieri) auf – oder eben als gefragter Sideman an der Seite der großen Stimmen des Modern Creatives, des Free-Jazz, des Avant-Jazz: Bill Frisell, Elliott Sharp, Fred Frith, oder Carla Bley. Doch auch dies grenzte den notorischen Freigeist ein. Außerdem interessierte ihn auch keine Versprechen von novelty oder Genietum. So stellte er bereits 1994 klar: »Meine Musik ist keine große Innovation, kein konzeptioneller Sprung oder eine Revolution, sie ist vielmehr eine schöne Harmonie, ein unwiderstehlicher Rhythmus oder eine Melodie, die das Herz verändern kann.« Und: »Was ich erreichen möchte, ist das Gleiche, wonach ich in anderer Musik suche: diesen Sound nochmals zu hören, zu versuchen herauszufinden, was seinen Reiz ausmacht und nahe genug heranzukommen, um zu erkennen, dass der Rest im Verborgenen bleibt«, beschrieb er damals im Gespräch mit der TAZ seinen musikalischen Anspruch.

Daraufhin widmet er sich musikalischen Herausforderungen, wurde zum Archäologen, der zum Beispiel mit seiner Partnerin Robin Holcomb – ihres Zeichens selbst herausragende Vokalistin – die sozialistischen Arbeiter- und Gewerkschaftslieder von Joe Hill vertonte. Im Jahr 2004 vertont er das Leben von Joe Hill: häufig befreit von seinen Country-Folk-Wurzeln, dafür komplex und bisweilen dissonant, direkt, dann wieder ironisch oder sentimental. Und eröffnete damit einer ganzen Szene Zugang zu den Trieben der IWW, der Industrial Workers of the World, kurz: Wobblies!

Aber auch als Sozialist bezeichnet sich Horvitz nicht, alles andere wäre eine Enttäuschung gewesen. In den letzten Jahren wendet sich er als Komponist immer häufiger solchen erzählerischen Werken zu;oder erzählt seine Geschichte einfach nochmal und neu: 2021 und `23 erschienen die ersten beiden Teile der »Wayne Horvitz – Live Forever«-Reihe.

Text: Lars Fleischmann, Foto: Tom Chargin

Am 7. September wird Sonny Rollins 93 Jahre alt. Am 14. September feiern wir seinen Geburtstag und sein Lebenswerk im King Georg mit einem Tribute-Abend.

Sonny Rollins

Von der bedeutenden Riege der Jazzmusiker, die in den 1940ern und 50ern den Jazz von der Unterhaltungsmusik zur Kunstmusik revolutionierten; die den Be-Bop, den Cool Jazz, den Hard Bop, den Spiritual und alles, was da noch kommen sollte miterlebt haben; die mit gewissem Stolz von sich behaupten dürfen mit wirklich jeder ikonischen Persönlichkeit des Jazz zusammen gespielt zu haben, gibt es eigentlich nur noch Sonny Rollins, der all dies und noch so viel mehr persönlich erzählen kann.

Klar, es gibt noch so grandiose und wichtige Gestalten wie Marshall Allen, dieser hat indes primär mit Sun Ra, und nach dessen Ableben, mit dem gleichnamigen »Arkestra« musiziert. Rollins hingegen blies für alle »in sein Rohr« – und vor allem für sich selbst.

Davon, von dieser Karriere, hat der 1930 in Harlem geborene Theodor nur träumen dürfen, als er mit sieben erstmalig ein Saxofon geschenkt bekam. Wir befinden uns mitten in der großen Depression und gerade Harlem, als großes Auffangbecken der Great Migration – der Wanderung der freien Afroamerikaner*innen von den Südstaaten in den Norden der USA – ist von der finanziellen und wirtschaftlichen Not betroffen. Ganz Harlem? Nunja, ein großer Teil des New Yorker Bezirks; gleichsam ist die Nordspitze Manhattans für ihre Ausgehmeilen bekannt: Cotton Club, Savoy, Lenox Lounge – die großen Clubs der Geschichte. Klein Theodor mittemang und immer mit etwas Schuhcreme im Gesicht, was wohl einen Schnurrbart darstellen sollte.

Ganz versessen auf den Jazz umgarnt er seine alleinerziehende Mutter so lange, bis diese ein recht altes Saxofon irgendwo herbekommt; manch eine Legende spricht auch von einem einflussreichen Onkel, der wohl Saxofonist war. Womöglich auch nur ein Übersetzungsfehler, denn Rollins spricht seit jeher von »this one uncle« … naja, man darf beim nächsten Whisky an der Bar wohl drüber streiten.

Bei einer solchen Diskussion im illustren Kreis sollte man dann auch 2023 noch darauf bestehen, dass der DJ mal wieder Sonny Rollins auflegt, damit man sich während der mühelos geführten Diskussion nochmal vor Augen führen kann, warum Rollins, als Tenorsaxofonist Geschichte schreiben sollte. Klar, Charlie Parker ist die Ikone des BeBop, doch Rollins machte den Tenor zum Star. Zusammen mit Coltrane selbstverständlich, setzte Rollins die bereits durch Lester Young und Coleman Hawkins losgetretene Tenorisierung durch. Das große Denkmal für sein Instrument sollte er gleich selbst liefern:

»Tenor Madness« aus dem Jahr 1956 sollte derweil die einzige gemeinsame Aufnahme von Rollins und Coltrane, den beiden Titanen des Tenors, bleiben. Die Wege hatten sich nicht erst `56, sondern bereites früher gekreuzt. Schon 1951 hatte Rollins mit Miles Davis und Charlie Parker spielen dürfen – ein Jahr vorher war er noch wegen eines Überfalls für zehn Monate hinter Gittern gewesen. Gleichzeitig war er heroinabhängig, doch sein Talent rettete ihm damals den Sprichwörtlichen. »Entweder man hat es oder eben nicht. Musik kann man lernen, dann denkt man. Aber Spielen kann man nicht lernen – entweder spielt man oder man denkt«, kommentierte er einst eine Frage, wie er dope on heroine noch Saxofon spielen konnte. Gerade Davis schätzte ihn für seine Spielweise, die irgendwie verwegen und doch so griffig war; druff waren eh die meisten, was also kein Karrierehemmnis darstellen musste. Doch als er 1953 ein weiteres Mal in den Knast kam, weil sein Heroinkonsum gegen die Kautionsauflagen verstieß, drohte seine prekäre Gesamtsituation doch zum Problem zu werden. Justemang sollte dieser Schuß vor den Bug mit seinem Durchbruchsjahr zusammenfallen: Mit Sidemanship bei Davis, bei Charlie Parker und Thelonious Monk errang er beim Publikum die nötige Beliebtheit. Ein Jahr später feierte er mit gleich drei wunderbaren Kompositionen den ersten großen Erfolg. Eine davon ist »Doxy«.

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Warum sich Sonny Rollins Anfang 1955 dennoch dafür entscheidet in die Klinik zu gehen und seine Heroinabhängigkeit anzugehen, ist bis heute nicht vollends geklärt. Er selbst drückte noch 42 Jahre später sein Erstaunen in einem Interview aus: »Ich dachte, ich verliere meine Fähigkeit dieses Instrument zu beherrschen. Ich war eigentlich davon überzeugt – und begann dennoch mit dem Methadon.« Seine Gesundheit und seiner Karriere hat dieser folgenreiche Schritt nicht geschadet.

Sein Stil wurde indes sein Markenzeichen: Mitte der 1950er war Rollins der wichtigste Saxofonist; das ging soweit, dass das Publikum seiner Enttäuschung freien Lauf ließ, wenn Miles Davis ohne Rollins auftrat und stattdessen Coltrane am Tenor anbot. Das mag heute sehr überraschen, war aber status quo. Seine eckigen, manchmal sogar ironisch wirkenden Lines machten etwas her, der Hit waren aber seine Improvisationen, die sich nicht lange mit dem alten Modell des Harmoniegerüsts aufhielten, sondern die Kernmotive der Stücke aufnahmen und über diese improvisierten, fast schon fabulierten. Wenn er wollte, dann konnte er über mehrere Minuten und länger immer weiter spielen. Er selbst nannte das strolling, also Bummeln.

So war der nächste Schritt fast schon folgerichtig: 1957 löste er sich vom klassischen Quartett und suspendierte das Piano als Chord-Instrument. Bass, Drums und Saxofon – heute normal, damals nichts anderes als eine weitere Revolution. Diese Konstellation gab Rollins den nötigen Platz für sein wanderndes, schlenderndes Spiel. Das ging zwei Jahre so – dann verabschiedete er sich aus der Öffentlichkeit. Statt in Clubs spielte er auf der New Yorker Williamsburg Bridge, weil er zu Hause wegen Lärmbeschwerden der Nachbarn nicht mehr spielen durfte, sollte, wollte. Hier, zwischen 1959 und 1961 lernt er das Saxofonspiel nochmal neu, dazu stellt er sein Leben neu auf und hört mit dem Alkohol und dem Rauchen auf.

Man würde es sich leicht machen, wenn man Rollins als weirdo bezeichnen würde. Nach dem Verzicht auf die bewusstseinseinschränkenden Mittel – die gleichsam zum Tod vieler seiner Weggefährten führten – wurde Musik zu seiner Bewusstseinserweiterung.  Musik und Yoga, dem er sich bereits Anfang der 1970er zu wendet. Es ist nicht das Ende, sondern bloß ein weiterer Neubeginn, eine neue (R)Evolution: Erst untersucht Rollins die Möglichkeiten Jazz und Rock miteinander zu verbinden, komplett frei von Scheuklappen und Stylepuristentum; dann nimmt er sich das Solospiel vor und ist die erste Größe der Saxofon-Solo-Konzerte und -Platten. Immer wieder geht er die Wege, die seine Kollegen nicht gehen wollen oder können: Sich über den Zeitraum von 50, 60 Minuten alleine auf eine Bühne zu stellen, war anderen lange zu riskant.

Besonderes Augenmerk sollte man, wenn man sich eh schon in einer Re-Lektüre befindet, den karibischen Einflüssen in seiner Musik widmen. Rollins entwickelt, beeindruckt vom Erfolg Harry Belafontes und des aufkeimenden Rocksteadys, eine Vorliebe für die Sounds seiner Familie, die von den Jungferninseln in die USA gekommen waren. Westkaribische Sounds finden immer wieder Platz in seinen Sets und auf seinen Platten.

Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich Rollins dieser Musik widmet. Ein Großteil der Jazz-Kollegen des Be-Bop, des Hard-Bop, des Free und Spiritual Jazz meiden lange karibische Sounds – hält man die afro-kubanische Syntheseklänge außen vor, dann bleibt Rollins als einer der ganz verwegenen Musiker im Gedächtnis.
Im Gedächtnis bleiben derweil all diese Phasen: Die Anfänge, der BeBop, die eigene Stimme, die Kooperationen mit Max Roach, Miles Davis, Thelonious Monk, seine Trios, seine Solos, der Rock, der Calypso, Yoga, Meditation und zu guter Letzt sein Abschied vom Saxofon 2014. Die Lunge wollte dann doch irgendwann nicht mehr mitmachen. Doch sprechen und berichten kann Sonny Rollins noch: Heute feiert er seinen 93. Geburtstag und am 14. September heißt es im King Georg: »A Tribute To Sonny Rollins«.

Text: Lars Fleischmann, Foto: Creative Commons